Als Intendant des Stadttheaters im belgischen Gent hat der Regisseur und künstlerische Aktivist Milo Rau vor ein paar Jahren gemeinsam mit seinem Team ein Zehn-Punkte-Dogma verfasst, das „Stadttheater der Zukunft“. Es ging darum, Theater radikal anders zu denken, zu gestalten, zu leben. Vordergründig und numerisch schienen die zehn Vorgaben an die Zehn Gebote anzuknüpfen. Doch bereits Regel Nr. 1 setzte eher bei Karl Marx an: „Es geht nicht mehr nur darum, die Welt darzustellen. Es geht darum, sie zu verändern. Nicht die Darstellung des Realen ist das Ziel, sondern dass die Darstellung selbst real wird.“
Was aber ist eine Darstellung, die real wird? Und: Wie lässt sich Marxistisches, zumindest Sozialrevolutionäres, mit Biblischem verbind
em verbinden? Dies zeigt der neue Film des Schweizers, Das neue Evangelium, recht explizit. Rau ist für seine gesellschaftspolitischen, performativen Werke inzwischen weltweit bekannt, das Religiöse spielte bislang aber eher eine marginale Rolle in seinem Werk. Nun aber paraphrasieren er und das Ensemble aus Laiendarsteller*innen und Profi-Filmschaffenden in der Doku-Fiktion die Frage: Was würde Jesus tun, heute und konkret hier, angesichts Tausender Flüchtlinge und Migrant*innen, die auf süditalienischen Plantagen unter sklavereiähnlichen Bedingungen leben und für Hungerlöhne schuften?Regionen und Zustände wie in Italien gibt es überall auf der Welt. Die im Film dargestellte „Funktionsweise“ von Flucht, Illegalität und Ausbeutung ist exemplarisch für die Verhältnisse anno 2021. Das neue Evangelium legt indes seinen Fokus auf die reale Situation rund um die italienische Kleinstadt Matera, auf Europas Kulturhaupstadt 2019, auch berühmt als Drehort für die Jesus-Filme von Pier Paolo Pasolini und Mel Gibson.Rau wählt jedoch einen entschieden anderen Zugang zu Jesus als die berühmten Regiekollegen. Die Rolle des Jesus spielt bei ihm der gebürtige Kameruner Yvan Sagnet, der freilich kein Schauspieler ist, sondern ein politischer Aktivist. Sagnet, 2005 als Student nach Italien gekommen, organisierte die landesweit ersten Proteste von Migrant*innen gegen katastrophale Arbeitsbedingungen auf besagten Plantagen. Rau stieß 2019 bei seinen Vorrecherchen in Matera auf den heute 36-Jährigen „Ich habe ihn gefragt: ‚Wie hast du es geschafft, diese Leute aus so vielen Nationen hinter dich zu bringen?‘ Da hat er gesagt: ‚Ich habe zwölf Unterführer.‘ ‚Zwölf?‘, habe ich gefragt. Und so hat sich die Idee langsam entwickelt.“Sie stürmen einen SupermarktIm Film nun sammelt der schwarze Jesus die Jünger um sich, wie es das biblische Vorbild einst tat. „Habt keine Angst, herzukommen und zuzuhören, denn so könnt ihr nicht mehr weiterleben, unter diesen Bedingungen“, ruft Sagnet ihnen in einer schäbigen Halle zu, die als Schlafstätte der Plantagenarbeiter dient.Raus Regie, die Kameraführung Thomas Eirich-Schneides und vor allem die Unverstelltheit der Laiendarsteller, die ihr Dasein darlegen – das ergibt ein schöpferisches Dreiecksgeflecht, das die Parallelen glaubwürdig macht. Wie Jesus, der einst in Jerusalem einzog, so ziehen denn auch Sagnet und seine „Jünger“ später in das filmische Jerusalem ein. In apostolische Kleider gehüllt, gefolgt von echten Touristen und laienschauspielernden Einwohnern, protestieren sie für ihre Rechte.Eindrückliche Szenen sind das, in denen biblische Historie und die Realität der heute Marginalisierten eins zu werden scheinen. „Wir sind alle frei. Nicht der Verzweifelte ist der Feind, sondern der, der Verzweiflung sät“, ruft Sagnet in die Menge. Dann stürmen er und die Seinen einen Supermarkt, kippen die billige Passata aus den Regalen, zertreten wütend die Tomaten. Hier der abstrakte Kampf für die große Gerechtigkeit, da der konkrete Kampf für legale Arbeit, bessere Entlohnung, die Beseitigung mafiöser Arbeitsvermittlung. „Jesus ist definitiv ein Vorbild für mich“, sagt Sagnet im echten Leben.Die Gesamtkomposition des Films ähnelt, wie schon frühere Werke Raus, etwa Das Kongo Tribunal (2015), einer Reality-Performance. Es ist nicht immer klar: Sind das vorab verfasste Szenen oder wurde hier Ungeplantes auf Zelluloid festgehalten? Als ein junger Italiener, der sich bei Rau als Darsteller für einen römischen Soldaten bewirbt, beim Casting seinen Hass auf den schwarzen Jesus „vorspielt“, kann es den Zuschauenden beim Anblick der offensichtlich tief schlummernden, echten Gewaltbereitschaft den Atem verschlagen. Wie viele fühlen unbewusst wie er?Wenn sich Wirkliches und Fiktives ununterscheidbar vermengen, kann man darin einen Mangel sehen – oder aber Inspiratives daraus schöpfen. Das Prinzip dabei: Selbst, wenn dies gerade gespielt ist – es könnte so sein, so werden, es wäre möglich. So lässt die filmische Spontaneität bei den Beteiligten offensichtlich Handlungskompetenz und Mut wachsen. „Rivolta della dignità“, eine „Revolte der Würde“ – das ist das wütende Leitmotiv. Die schwarzen Tomatenpflücker rufen es immer wieder aus, wenn sie protestierend durch die Straßen ziehen. Ihre mit Füßen getretene Würde – das ist der Kern des Films. Die Passionsgeschichte und die Kreuzigungsszene, hervorgehoben durch starke, klassische Musik, spielen eher im Hintergrund. Ob das gewollt war oder nicht, eine Botschaft scheint zu sein: es ist das Jetzt, in dem Jesus sein kann, wenn er denn ist, in denjenigen, deren Durst und Hunger er stillen wollte. Und: Der heutige Jesus ist, wenn er denn ist, ein kollektiver Jesus, eine Gemeinschaft aus Menschenkörpern und -seelen.Am Ende des Films zeigt die Kamera einen nächtlichen Strand, die Wasserwellen des lebensspendenden, todbringenden Mittelmeers. „Gehet also hin und lehret die Völker“, klingt die Stimme aus dem Off, „alles zu halten, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage, bis zum Ende der Welt.“ Trotz des vielen Leids: Im Film fehlt es nicht an Licht, an Hoffnung, auch an Humor. „Pass auf, sonst verwandele ich dich in eine Katze, schließlich bin ich Jesus“, sagt der wiederauferstandene, lachende Sagnet im Abspann, kurz nach der Kreuzigungsszene, in Richtung eines Hundes, der ihm zu nahe rückt.In Matera entstanden inzwischen immerhin anständige Unterkünfte für einige Dutzend der Arbeiter*innen und der obdachlosen Menschen aus dem Film, sie selbst nennen sie „Häuser der Würde“.Placeholder infobox-1
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