Shakespeares Lear ist in Cottbus weiblich. Und die Kinder sind nicht wie ursprünglich drei Töchter, sondern zwei Söhne (Raegan, Cordo) und eine Tochter (Goneril). Die ihrerseits haben andere Partner, nunmehr zwei Frauen, einen Mann, untereinander Freund wie Feind. Wo liegt die Differenz?
Mario Holetzeck, der Regisseur, kehrt mit seiner Fassung die Perspektive in ungeahnte Richtung. Erweitert sie. Raum erhält er dadurch, Aktionsraum auch für neue Rollen, andere Künste, eine andere, jäh wechselnde Gangart. Außerdem: Das von Werner Buhss ins Deutsche übertragene Stück braucht durch die Feminisierung der Titelrolle auch andere Formulierungen. Holetzeck inszeniert sie sehr geschickt, einwebend auch solche Situationen, die unmittelbar heutiges Leben spiegeln. Drei schlaksige Jugendliche, potentielle Erben, treten zu Beginn wie Typen von heute auf. Mutter, was will die schon? Allein, einer der drei, Cordo, ist anders. Ausgerechnet den verstößt die Königin. Was da am Samstag in Cottbus auf die Bühne kam, machte staunen. Zu erleben war ein kraftvolles, gedankenreiches, aufregendes Theater, wie es selten ist.
Die Rolle der Queen Lear hat eine so unnachahmliche wie großartige Trägerin: Heidrun Bartolomäus. Cottbus kennt sie von früher. Älter geworden, bringt sie Queen Lear voller Naivität und Weisheit, voller Elan und Erschütterung. Eine Frau, die zusammenzuhalten sucht, war schon auseinander gesprengt ist, die den Grafen von Kent verstößt, weil er gemahnt hat, Vorsicht walten zu lassen, der aber heimlich zu ihr zurückkehrt, als weiblicher Narr verkleidet. Ein humorvolles Paar noch, als die Königin schon verrückt geworden ist, die eigenen Kinder ihr die Streitmacht zu entreißen suchen und untereinander mordsfeindlich sind. Parallel läuft der Strang um den Krieger Graf von Gloster, Rolf-Jürgen Gebert verleiht ihm kräftige Kontur. Gloster, verwegen, ungeschlacht, eine tragische Figur, widerfährt es, dass Lears verfluchte Brut ihm die Augen aussticht und in die Ungewissheit schickt. Äußerst kunstvoll gestaltet die Rollen seiner zwei Kinder. „Tochter“ Edmund, ein Bastard, von der blonden schlanken großen Johanna Emil Fülle kampfbetont und abgefeimt gespielt, scheint die Verruchteste von allen.
Das Clavichord rhythmisiert
Alle wollen die Krone. Die pantomimischen Spiele um die Krone, bloß ein gezacktes Stück Blech, wie die Blicke nach ihr aufschlagen, wie die Finger nach ihr sehnsüchtig tasten, wie sie achtlos in den Dreck geht, das sind eminent ansteckende Momente. Amadeus Gollners Edgar, Glosters Sohn, der vom Vater verstoßene, ist eindringlich, agil, artistisch umgesetzt.
Nicht minder überwältigend die Kampfszenen. Da dreht das Karussell der kubistischen Bühne rasch, rascher, noch rascher. Oben die Krieger, unten die Verstoßenen, sich Duckenden, schon Halbtoten. Funken und Qualm stieben. Die große Trommel rührt zum letzten Gefecht, treibt an. Die Geige schärft die Schwerter. Das Clavichord rhythmisiert die Choreografie. Wie dem gesamten Ensemble hohe Anerkennung gebührt, so den drei Musikern im Graben. Fast die ganze Aufführung haben der Perkussionist Tobias Dutschke, Dietrich Petzold (Geige, Viola) und der Tastenspieler Hans Petith zu tun.
Queen Lear singt am Schluss ein todtraurig’ Lied vom Schlaf. Die Katastrophe ist offenbar. Die Königin umfasst die Leichen ihrer Kinder, wie Ernst Barlach das gemeißelt hat. Am Ende großes Ausatmen. Aufregend dieser König Lear. Begeistert das Publikum.
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