Manche unserer Überzeugungen haben einen ziemlich langen Bart. Als ehrwürdige Bedenkenträger heben sie aus alter Gewohnheit den moralischen Zeigefinger auch dort, wo wir ihnen schon nicht mehr recht trauen können, zum Beispiel bei der Verdammung des bösen Konsums. Es gilt ja immer noch die Auffassung, dass Werbung lüge und Marketing falsche Wünsche anreize.
Wolfgang Ullrich will solchen wohlfeilen Denkmustern gehörig am Bart zupfen, genauer gesagt findet er, der Bart der alten Konsumkritik gehöre endlich ab. In ihrem elitären und zutiefst bürgerlichen Dünkel gegen Billigware und Massenproduktion habe sie nämlich nicht verstanden, wie Konsum heute funktioniert. Im fortgeschrittenen kulturellen Kapitalismus sei der Gegensatz vom wahren Wert und lügenhaftem Werbeschein längst obsolet, und Ullrichs grundlegende These lautet daher: Konsumgüter sind Medien, sie transportieren Botschaften, und diese Botschaften zu entschlüsseln ist eine Kulturtechnik wie das Lesen. Je mehr wir lernen, mit den Produkten und den sie begleitenden Fantasien umzugehen, desto besser können wir mit ihren Formen spielen, eine Kennerschaft, gar Kunstfertigkeit im Genuss entwickeln. Wer hier die Nase rümpft und auf dem Unterschied zwischen einer hübschen Pfeffermühle und Goethes Wahlverwandtschaften beharrt, irrt und zeigt, dass er sich nicht auskennt. „Abwehr und Ressentiment sind Folge einer Überforderung: Ausdruck ungenügender Ausbildung im Umgang mit einem Zeichensystem“, meint Ullrich und ist sich sicher, dass man in Zukunft auf die Konsumkritiker genauso befremdet zurückschauen wird wie heute auf die ehemaligen Verächter des Romans.
Wie schon in seinem Buch Habenwollen gefällt sich Ullrich (geb. 1967) in der provokanten Pose des Gleichschalters. Er behandelt Konsumgüter wie Kunstobjekte, Produktdesigner wie Künstler, Konsumenten wie Kunstliebhaber und unterläuft gekonnt die Distinktionen guten Geschmacks. Bewusst wählt er für seine liebevoll detaillierten Analysen der Warenwelt hässliche, banale Dinge, und es macht großen Spaß, von Duschgels zu lesen, die sich mit erleichtertem „Pfft“ öffnen, oder Mineralwässern, die sich zunehmend wie alkoholische Getränke stilisieren. In Ullrichs halb ironischen, halb ernsthaft phänomenologischen Beschreibungen wird klar, wie komplex diese Produkte designt sind. Wie jedes Detail sitzt, von der Form der Flasche, ihrer Farbe, der Griffigkeit des Materials, der Aufschrift bis zum Duft, den sie verströmt. „Multisensory enhancement“ heißt die Einbeziehung aller Sinne ins Produkterlebnis.
Dubiose Verkaufsstrategien
Unter der Hand lässt Ullrich die Produktbeschreibungen zu kleinen Gesellschaftsanalysen werden. Er zeigt, wie Dinge unsere Erlebniswelt prägen, wie sie uns erziehen. Interessant ist seine These, dass wir uns zu Konsumprodukten ähnlich verhalten wie zu Objekten traditionellen Aberglaubens. Die Warenwelt ist ja nicht entzaubert, und „worauf ehedem ein Hufeisen hoffen ließ, das verspricht zurzeit dem einen ein Joghurt, dem anderen ein Speiseeis, ein Shampoo oder eine Kaffeesorte.“ Ullrich sieht in solcher spirituellen Aufladung keinen Grund zur Besorgnis, im Gegenteil. Der Aberglaube sei polytheistisch veranlagt, glaube nicht wirklich ernsthaft an seine Objekte und sei darum harmloser als monotheistisch-rigide Glaubensordnungen.
Während Ullrich im ersten Teil des Buches seine konsumemphatische Attitüde durchzieht, geht er im zweiten zu unvorhersehbaren Volten über. So argumentiert er, dass die Konsumkritik mit ihrem impliziten Versprechen, vom Elend zur Erlösung zu führen, dasselbe Narrativ benutze wie das Marketing, also dubiose Verkaufsstrategien anwende. Mit diesem Argument gegen den Lieblingsfeind kommt ein kritischer Ton ins Buch. Ullrich gibt zu bedenken, dass die Metaphern, mit denen die Marketingstrategen arbeiten, auch eine moralische Dimension haben und schaden können. Auf seiner Abschussliste stehen – natürlich – vor allem die LOHAS, jene Mittelschicht, die sich dem guten, dem umweltfreundlichen Konsum verschrieben hat. Das Arrangement mit der Natur produziere Arroganz und Ressentiments gegenüber ärmeren Schichten, die sich den nachhaltigen Konsum nicht leisten können, findet Ullrich. Überhaupt misstraut er dem wertegeleiteten Marketing. Wo Unternehmer mehr sein wollen als Kapitalisten, werde Konsum zur Ideologiemaschine.
Alles Konsum ist schön zu lesen, es ist kenntnisreich und witzig, und es enthält ein Bilderrätsel. Jedem Kapitel ist ein Foto mit einem Bücherregal vorangestellt, in dem all jene Produkte und Literaturstücke herumliegen, um die es im folgenden Kapitel gehen wird. Produkte sind wie Bücher, war ja die These. Was aber bedeutet der ominöse Großbecher „Non Stop“ Cookies, der mal oben, mal unten, mal rechts mal links drapiert in allen diesen Regalen auftaucht, aber nie im Text? Dieses Produkt ist ein Enigma, der Joker, der Platzhalter für den Autor selbst.
Denn so wenig wie sich das Kleingedruckte auf dem Becher entziffern lässt, so wenig lässt sich Ullrich in die Karten schauen. Letztlich bleibt er ein Postmoderner durch und durch, wozu eben auch gehört, dass man nicht weiß, ob er wirklich einer ist. Er plädiert für barocke Vielfalt, Kitsch, Ironie. Moral ist ihm suspekt. Seine Hoffnung gilt der Ausdifferenzierung, dem spielerisch kenntnisreichen Umgang mit Konsum, der nach und nach eine Verfeinerung der Sitten zur Folge haben werde. Im antibürgerlichen Affekt gefällt er sich darin, den Spieß immer wieder umzudrehen, den bösen, ideologischen Konsum als harmloses Spiel und den guten Konsum als eigentlich ideologisch zu markieren.
Es stimmt schon, dass die alten Muster der Konsumkritik nicht mehr greifen, aber das heißt ja noch lange nicht, dass wir keine neuen, intelligenteren brauchen. Ullrich meidet das klare Statement, und daher sucht er auch keine Antwort auf Fragen, die man doch stellen muss, etwa wo wir die Myriaden von verbrauchten Erlebnis-Duschgelflaschen bitte entsorgen sollen und was uns die Konsumdelirien kosten: energetisch, intellektuell und menschlich. Dass man an der Übermacht der Produktexzesse auch verzweifeln kann, lässt Ullrich – schon aus Prinzip – nicht gelten.
Alles nur Konsum. Kritik der warenästhetischen Erziehung Wolfgang Ullrich Wagenbach 2013, 205 S., 11,90 €
Andrea Roedig veröffentlichte soeben den Essayband Über alles, was hakt , der auch viele Texte enthält, die sie für den Freitag schrieb
Kommentare 6
Wenn gestattet, würde ich zum Thema 3 Begebenheiten aus eigenem Erleben zum Besten geben.
Mein Opa mütterlicher Seits betrieb zu DDR Zeit eine Werkstatt . In seinem Kontor war ein Buchhalter tätig . Beide einte die Leidenschaft , dem Genuß guter Zigarren zu frönen . Meinem Opa war eine Neigenschaft zum Schalk nicht abzusprechen . So begab es sich, das er eines Tages im Besitz einer Schachtel Westdeutscher Dannemann Zigarren war. Als Diese leer war, füllte er sie mit Ost-Zigarren und bot dem Buchhalter später eine davon an . Nach der feierlichen Entzündung atmete er genußvoll ein und kommentierte, ,,Was für ein Unterschied "
Gastronomen haben eine unglaubliche Auswahl, sich bei ihrem Getränke-Fach-Groß-Händler für die Belieferung mit Wasser in Gastronomie-Flaschen zu entscheiden. Von Glashäger bis Gerolsteiner gibt es diverseste Produkte und Quellen. Das fast Inhaltsvernachlässigendeste und so gut wie immer schlagend Argument liefert aber die Firma Gaensefurther Wasser. Sie ließ sich einst die kleinen Glas-Tischflasche von Colani designen. Der Name und die spiralförmige Form der Flasche würde nach meiner Erfahrung Frakking-Wasser scheinbar sogar verkäuflich werden lassen.
Realität : Mein anderer Opa Bruno hat in der DDR täglich bis zu 4 Schachteln der Marke F 6 aus einfachst designer Karton-Packung inhaliert. Ich rauche nur 2,aber dafür schönsten Designs und Materials erscheinende, Schachteln ,,West-Zigaretten"
Aber was soll ich sagen. Beim Atmen pfeift es in meiner Lunge genau,wie einst bei Opa Bruno ..
Ich denke auch, dass Ullrich hier zwar grundsätzlich spannende und relevante Ansätze liefert, diese jedoch nicht konsequent ausführt. Gerade das klare Statement ist es, was heute unbedingt notwendig ist. Die aufgedeckten Zusammenhänge und Dimensionen der diffusen Verstrickungen unserer ästhetisierten, neoliberalen Welt bedürfen einer komplexen, interdisziplinären und kritischen (Kultur)Analyse. Inspirirend fand ich z.B. Antje Böhme, die dies in ihrem Buch "Träumen Sie schön" am Beispiel des Shoppingcenters aufzeigt, um, wie sie schreibt, "ein Bewusstsein über die undurchschaute Wirksamkeit ästhetischer Qualitäten im Dienste ökonomischer und politischer Interessen herzustellen".
Die Kulturkritik selbst hat natürlich auch ihre ästhetischen Reize, z.B. Formulierungen wie "diffuse Verstrickung" und "undurchschaute Wirksamkeit".
Man kann Bücher umgekehrt ja auch wie ein Shoppingcenter auffassen - und Lesen wie Schaufensterbummeln: "In der Galeria Sloterdijk jetzt wieder im Angebot: "ontologische Konturen der Seins-Weise , Anthropotechnik und jede Menge metaphysische Festlegungen".
Und kehrt man Ullrichs Analyse um, könnte man dann nicht auch sagen: Die erste Höhlenmalerei war eigentlich nur Schleichwerbung?
Herr Ullrich will also, "dass man Produkte wie Bücher liest"!? Doch: wie soll das gehen, das "Lesen" von Eierlöffeln?!
Kultürlich redet Herr Ullrich spätpubertären Unsinn daher, reiner Nominalismus, kirchend dahergeplapperte Bluffrhetorik der Marke Mehr Schein als Sein, kurz: ein prima Geschäftsidee der Marke aus Scheiße Geld machen.
Aber es dürfte genügend Konsumenten geben, die sein Buch, also dieses Produkt, "wie Bücher lesen" wollen, doch auch hier muss man sich schon fragen, ob wir - praktisch betrachtet - überhaupt "Bücher" lesen, oder doch nur ein Buch, metaphorisch gesprochen: ob wir "Obst" essen können, um "gesund zu bleiben", oder ob wir es doch nicht besser mit einem Apfel oder einer Apfelsine versuchen sollten: das essen!
Das Dumme ist und bleiben die Tatsachen, derzufolge die Wahrheit konkret sei, und derzufolge „lesen“ nicht gleich „lesen“ ist.
Was man gelernt haben müsste, das ist das "lesen" können; mehr http://profiprofil.wordpress.com/2009/06/19/was-heist-lesen-konnen/
"Produkte" „wie Bücher“ lesen zu können, das soll also eine neue Kulturtechnik werden, doch müsste es nicht eigentlich/wirklich ums lesen gehen, sondern ums verstehen?!
Und warum sollte ich intellektuell nachvollziehen können müssen, genauer gesagt: welchen WERT könnte es für mich und meine Umwelt haben, irgend ein Scheißprodukt besser zu verstehen: wer sich ernsthaft für ein Produkt, z. B. ein bestimmtes Automobil, interessiert, der wird schon heute zur Sekundärliteratur der Fachartikel greifen, um sein Wissen zu optimieren?!
So, wie ich zu Andrea Roedigs Rezension gegriffen habe, um zu der Erkenntnis zu gelangen, dass ich das Produkt des Herrn Ullrich wirklich nicht kaufen und auch nicht lesen werde, weil ich es für objektiv wertlos, für gesellschaftlich unnötige Arbeit halte.
Nothing for ungood - understanding?
Die unverantwortliche westliche Konsumkultur schadet massiv unserem Planeten und beraubt Menschen, die nicht das Glück hatten in bestimmten Ländern geboren zu sein, sowie zukünftige Generationen ihrer Lebensgrundlagen.
Aber das ist vielleicht eine allzu simple Wahrheit, als dass sie für einen intellektuellen Bluffer wie Ullrich zu ertragen wäre. Stattdessen muss er semiotische Spielchen treiben, schlimmste Marketingästhetiken (auch eine Form der Umweltverschmutzung) zur Kunst verklären und verfällt in eine naive 90er-Jahre-Affirmation des Bestehenden. Wer den Fetisch nicht untersucht, sondern selbst braucht, der ist in Wirklichkeit in seinem bürgerlich-akademischen Dünkel gefangen. Cultural Studies waren nie als entlastende Beliebigkeitsargumentationen gedacht. Aber evtl. kritisiert man Krieg, Folter und Massenvergewaltigungen auch am besten, indem man sie als "Medien mit Botschaften" begreift. Der bemitleidenswerte Folterer ist einfach nicht auf die Idee gekommen, dass er, statt seinem grausamen Treiben nachzugehen, genausogut einen Roman hätte schreiben oder eine fiepende Duschgelflasche hätte entwerfen können.
"Wolfgang Ullrich entstaubt die gute alte Warenkritik" und "Seine Hoffnung gilt der Ausdifferenzierung, dem spielerisch kenntnisreichen Umgang mit Konsum..."
Und im Zusammenhang mit "kenntnisreichem Konsum" und dementsprechender Eigenverantwortung fällt mir noch etwas ein. Dieses ersteinmal naheliegende und immer wieder mitschwingende Argument, wir hätten ja eigentlich irgendwie auch „selbst Schuld“. Es ärgert mich maßlos.
Und deshalb hier eine kleine (unvollständige) Liste, anhand derer die Eigenverantwortlichkeit der Bürgerinnen und Bürger noch einmal deutlich erkennbar ist.
Denn angeblich:
steuern wir mit dem Kaufverhalten unsere Ernährungsqualität;
beherrschen wir mit dem Verbraucherverhalten unsere Energiepreise;
verschmutzen wir mit dem industriell hergestellten Verpackungsmüll die Umwelt;
bekommen wir das TV-Programm, welches wir verlangen;
befeuern wir mit unserem Wohnverhalten die steigenden Mietpreise;
beeinflussen wir mit dem Leserverhalten den Medien-, bzw. Zeitungsmarkt
und steuern wir mit dem Userverhalten das Internet.
Das mag einander sicherlich teilweise beeinflussen, aber die meisten Bürger haben doch eigentlich ihre Vertreter nicht gewählt, damit ihnen jederzeit gesagt werden kann, sie seien doch irgendwie auch selbst Schuld und sie sollten sich schlicht ordentlich informieren und dann entsprechend auswählen.