In der hereinbrechenden Dunkelheit hänge ich am Ärmel meines Führers, der mich durch die verwinkelten Gassen der Altstadt Srinagars im indischen Teil Kaschmirs zieht. Es ist gegen sieben Uhr. Krachend fallen vor den Läden Rollgitter auf das Pflaster, Menschen sind eiligen Schrittes unterwegs, die Straßen leeren sich, Abendkühle liegt vor den Mauern. Für einen Besuch bei Parveena Ahangar scheint es fast schon zu spät. Zwar besteht offiziell keine Ausgangssperre mehr, doch suchen alle das Risiko von Kontrollen durch indische Soldaten zu meiden, die hinter Sandsäcken und Barrikaden hocken. Und die ein ungeübtes Auge oft erst auf den zweiten Blick erkennt.
Deshalb nahmen sie ihn mit Im Kaschmirtal, dem mehrheitlich von Muslimen bewohnten Teil de
uslimen bewohnten Teil des Unionsstaates Jammu Kaschmir, ist Parveena Ahangar eine weithin verehrte Frau, seit sie 1994 die Organisation Eltern der Verschwundenen gründete. In ihrem Viertel kennt jeder deren Vorsitzende, die mich mit einem herzlichen Begrüßungskuss empfängt. Kaum sitze ich auf dem Teppich, kommt sie schon mit Keksen, Tee und einer Decke, unter die sie zu meiner Freude einen Konkri schiebt. Dieser kleine und in Kaschmir seit Jahrhunderten gebräuchliche Tonofen wärmt sogleich die klammen Finger. Die Landestracht Pirhan, ein weites knielanges Wollhemd, das auch Parveena mit Stolz trägt, ist wie geschaffen dafür, den Ofen an kalten Tagen draußen mit sich herumzutragen. Mit ihrer energischen Stimme füllt sie augenblicklich den Raum, der ansonsten leer ist - bis auf ein Fernsehgerät und ein Poster der Pilgerstadt Medina: "Sie haben wieder jemanden geschickt, und sie haben wieder sehr viel Geld geboten, damit ich endlich Ruhe gebe, aber warum sollte ich das tun?" Mit anderen muslimischen Müttern teilt Parveena Ahangar eine traumatische Erfahrung: In einer Augustnacht des Jahres 1990 verhafteten Sicherheitskräfte ihren Sohn Javeed Ahmed in diesem Haus, um ihn zu einem Verhör zu bringen. Seither fehlt von ihm jedes Lebenszeichen: "Javeed war damals 17 Jahre und besuchte noch die Oberschule. Als er vor dem indischen Offizier stand, hat er gezittert, das wertete der als Schuldgeständnis ..." Eine irrtümliche Festnahme, wie sich bald herausstellen soll. Man hat Javeed Ahmed mit einem Mann gleichen Namens verwechselt, der in der Nachbarschaft wohnt und seinerzeit der Jammu Kaschmir-Befreiungsfront angehört, die 1989/90 für zahlreiche Anschläge auf Mitglieder der Landesregierung National Conference verantwortlich ist, sich mittlerweile aber in ihrem Kampf um ein "freies unabhängiges Kaschmir" von der Gewalt verabschiedet hat. Der für die Festnahme ihres Sohnes verantwortliche Polizeioffizier - ein Captain Katoch - verweigert bis heute jede Aussage über die Geschehnisse jener Augustnacht. Er müsse wissen, so Parveena, was mit ihrem Sohn passiert sei, schweige aber seit einem Jahrzehnt beharrlich.Mehr ist nicht geblieben Ein halbes Kind noch, wurde Parveena Ahangar mit zwölf Jahren verheiratet und bereits mit dreizehn zum ersten Mal Mutter. Als ihr Sohn verschwindet, erzwingen die Umstände entschlossenes Handeln. Der Mann, ein Mechaniker, muss die drei Kinder versorgen, für muslimische Männer ist es viel zu riskant, Erkundigungen über den Verbleib Vermisster einzuholen. Also beginnt Parveena auf eigene Faust mit der Suche nach Javeed. Jahrelang ist sie unterwegs, Hoffnung schöpfend von Hospital zu Hospital, Gerüchten nachlaufend von Polizeistation zu Polizeistation. Sie wartet vor Armeecamps und Gefängnistoren, spricht in Meerut, in Varanasi - sogar in Delhi - bei Richtern und Armeeoffizieren vor. Überall prallt sie auf die gleichgültig ablaufenden Prozeduren behördlichen Desinteresses, als ob es ihren Sohn nie gegeben hätte und damit auch keine Entführung. Schließlich reichen die Ahangars 1994 zusammen mit 400 anderen betroffenen Familien und der Hilfe des renommierten Srinagarer Anwalts Parveez Imroz mehrere Petitionen ein. Jetzt wird der Fall zum Präzedenzfall, denn sollten die Ahangars Recht bekommen, könnten die Gerichte verpflichtet werden, sich mit mehr als 3.000 Fällen ungeklärten Verschwindens zu befassen - also verschleppen die Behörden den Vorgang ein Jahr um das andere. Bis heute stehen jeden Tag in Srinagar Frauen vor den Toren der Armeecamps und fragen nach Söhnen, Vätern und Ehemännern, die wie Javeed Ahmed zu Hause, auf der Straße oder bei der Arbeit verhaftet wurden oder durch Zufall in eines der Gefechte zwischen Extremisten und Sicherheitskräften gerieten. Da die indische Regierung nicht zwischen zivilen und militärischen Opfern des Kaschmir-Konflikts unterscheidet, haben die Angehörigen von Vermissten auch dann keinerlei Entschädigungsansprüche, wenn sie die Betreffenden für tot erklären lassen. Offizielle Quellen in Delhi sprechen für die Jahre seit 1990 von 9.400 zivilen Opfern militanter Anschläge, 2.992 im Kreuzfeuer ums Leben gekommenen Zivilisten, 13.488 getöteten "Terroristen" und 3.103 Toten unter den eigenen Sicherheitskräften. Daten, allein aus Hospitälern Srinagars, legen dagegen eine Gesamtzahl von bis zu 50.000 Toten nahe. Jeder Muslim im indischen Teil Kaschmirs muss heute befürchten, pauschal als Terrorist behandelt zu werden, dafür bürgt Indiens neues Anti-Terror-Gesetz (POTA), das ein hartes Durchgreifen erlaubt und die Angst der Menschen vor Willkürakten manchmal bis zur Hysterie treibt. "Warum wohl gehen wir vor Gericht? Doch nicht, weil unsere Söhne Terroristen sind. Selbst wenn sie es wären, hätten sie nicht auch dann das Recht auf einen fairen Prozess?" Parveena blättert in einer Broschüre, die 530 Fälle Verschwundener dokumentiert. Unscharfe Porträtaufnahmen in der Regel. So haben sie ausgesehen, Tage oder Jahre vor der Verhaftung. Mehr ist nicht geblieben, von der Erinnerung abgesehen, doch auch die verliert an Schärfe mit der Zeit. Mittlerweile räumt die Zentralregierung ein, die Verschwundenen seien keine Fiktionen. Plötzlich winkt den Ahangars sogar eine Entschädigung, sollten sie einwilligen, die Akte zu schließen und nicht länger nach dem Sohn zu suchen. Die Familie hätte viele gute Gründe, das Angebot anzunehmen, der Kampf gegen die Mühlen der Staatsgewalt hat sie erschöpft, dennoch will Parveena nicht aufgeben. "Sie sollen mir den Körper meines Sohnes geben, einen Beweis für seinen Tod. Ich wäre keine Mutter, würde ich nicht nach meinem Sohn suchen. Bis zu meinem Tode werde ich ihn suchen und werde ihn finden. Allah wird mir helfen", sagt Parveena, und das Medina-Poster hängt groß und grell in ihrem Zimmer.Auf Lebenszeit geächtet Die Frauen der Verschwundenen, sogenannte "Halbwitwen", dürfen nach den Gesetzen des Islam erst nach acht Jahren erneut heiraten. Ihre Lage ist oft so desolat, dass sie ihre Kinder nicht mehr ernähren können und in fremde Obhut geben müssen. Depressionen und Psychosen quälen diese Frauen, aber nur in den seltensten Fällen dürfen sie auf eine Behandlung hoffen. Wahid Khan, einer der wenigen Psychiater am staatlichen Krankenhaus in Srinagar, beobachtet denn auch einen alarmierenden Anstieg von Selbstmorden und Suizidversuchen. So ist Parveena Ahangars stets offenes Haus nicht zuletzt Refugium und Therapiestation, wo Frauen miteinander reden können und auf Hilfe stoßen. Parveena tut, was sie kann, besorgt Geld und Unterkünfte für die Waisenkinder, doch in ganz Kaschmir gibt es überhaupt nur zwei organisierte Frauengruppen - Duktharan-e-Miliat und Khawateen Markaaz. Beide haben ihren Sitz in Srinagrar, beide sind orthodox islamisch orientiert, beide werden nur unter strengen Auflagen geduldet - beide waren die ersten vor Ort, als 1990 Sicherheitskräfte im Dorf Kunun Poshpora 30 Mädchen und Frauen im Alter zwischen neun und achtzig Jahren brutal vergewaltigt hatten. Besonders in abgelegenen Orten fühlen sich Musliminnen sexuellen Übergriffen durch Soldaten schutzlos ausgeliefert. Da aber eine Vergewaltigung eine muslimische Frau stigmatisiert und sie danach nicht mehr heiraten kann, bleiben fast alle Fälle im Dunkeln. Außerdem stehen der Nationalen Frauen-Kommission für weibliche Konfliktopfer offiziell keine Mittel zur Verfügung. Das Engagement indischer wie ausländischer Hilfsorganisationen in Kaschmir ist ohnehin äußerst zurückhaltend, weil sie auf keinerlei Schutz rechnen dürfen. Mordanschläge auf Aktivisten und Journalisten haben die Zivilgesellschaft nahezu verstummen lassen. Um so mehr gewinnt eine Stimme wie die Parveena Ahangars an Gewicht. Sie gehört zu den wenigen, die es wagen, Menschenrechtsverletzungen der indischen Staatsgewalt öffentlich zu machen - und dies sogar über die Grenzen Indiens hinaus.
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