Rückkehr des politischen Theaters auf die Opernbühne Luigi Nonos "Intolleranza", ein Stück über Gewalt und das Recht der Menschen auf Frieden an der Deutschen Oper Berlin
Erneuerung hatte Udo Zimmermann, seit Saisonbeginn als Nachfolger Götz Friedrichs Intendant der Deutschen Oper Berlin, versprochen. Am 15. September brachte das Haus Luigi Nonos szenische Aktion Intolleranza auf die Bühne. Als sich der Vorhang über dem Geschehen senkte, aber was heißt hier senkte, vielmehr schloss wie die Linse einer alten Kamera, folgte statt des prognostizierten Skandals eine minutenlange Ovation. Das Publikum erhob sich von den Plätzen und spendete uneingeschränkten Beifall, der selbst den Regisseur Peter Konwitschny einschloss, das enfant terrible des Musiktheaters.
Vor 40 Jahren, am 13. April 1961, hatten sich bei der Uraufführung im Teatro La Fenice unbeschreibliche Szenen abgespielt. Catherine Gayer erzählte sie auf der Premier
e auf der Premierenfeier: "Als in Venedig zu Beginn der Chor der Bergarbeiter hochfuhr, brach schon ein Tumult aus. Das wollte auf der Bühne niemand wahrhaben." Neofaschisten warfen Stinkbomben, man brüllte und johlte, und die Polizei griff ein. Für Catherine Gayers Stimme hatte Nono damals die Partie der compagna komponiert, sie hatte, zusammen mit Carla Henius, in der Uraufführung gesungen. Aber kaum jemand schien das jetzt in Berlin noch zu wissen. Selbst der Intendant erwähnte es nicht in seiner Ansprache auf der Premierenfeier.Intolleranza 60, wie das Stück ursprünglich heißt, erzählt die Geschichte eines italienischen Gastarbeiters der frühen sechziger Jahre, der woanders (in Belgien, Deutschland?) die Arbeit findet, die es in der Heimat nicht mehr gibt. Eines Tages ergreift ihn die Sehnsucht, und er macht sich auf den Weg in die Heimat. Dort gerät er, statt in die erhoffte Idylle, in ihre politischen Verwicklungen. Er geht durch ein modernes danteskes Inferno von Schlägen, Verhören, Folterungen, Vergewaltigung und Mord. Auch die Heimat erweist sich als ein Gewalt-Szenarium. So erkennt er, an seiner Seite seine Gefährtin: "Hier muss man bleiben und hier ändern." Das Stück ist ein auf verschiedene Stimmen verteilter innerer Monolog. Der Chor zitiert aus der Reportage, unter dem Strang geschrieben des tschechischen Publizisten Julius Fucik und aus dem Bericht von Henri Alleg aus den französischen Folterhöllen von Algier. Paul Èluards berühmtes Résistance-Gedicht La liberté ("Auf die Stufen des Todes schreib ich deinen Namen") erscheint als tönendes Monument der Freiheit. In der Uraufführung wurden Filme aus Konzentrationslagern und aus dem Algerienkrieg, von Demonstrationen und Straßenschlachten in Frankreich und Italien, von Streiks, Grubenunglücken und von einer katastrophalen Überschwemmung der Po-Ebene Ende der fünfziger Jahre in die Szene eingeblendet. In dieses symbolisch überhöhte Finale ertönte als Chor a cappella Brechts epochale Stimme "Die ihr auftauchen werdet aus der Flut/ in der wir untergegangen sind/ gedenkt/ auch der finsteren Zeit/ der ihr entronnen seid." In der Zerstörung des opernhaften schönen Scheins bestand der Schock von 1960. Viele Regisseure, die aus den Schulen Felsensteins oder Brechts kamen, fanden zu diesem monologischen Theater keinen Zugang; daraus erklärt sich die sehr späte Berliner Erstaufführung. Man brauchte einen, der mit solcherart "szenischer Aktion" umgehen konnte, und fand ihn in Peter Konwitschny.Er rekonstruierte die Uraufführung nicht. Er ersetzte auch nicht alte Bilddokumente durch neue. Die von Hans-Joachim Schlieker vorzüglich ausgestattete Bühne zeigte ein rotgestrichenes Stahlgerüst, oben ein Arbeiter im Blaumann beim Frühstück. Träge erhebt er sich, geht ein paar Schritte, stolpert und stürzt, da setzt der Chor ein: "Lebendig ist, wer wach bleibt." Das Gerüst erinnert an den Potsdamer Platz, anstelle der Filmeinblendungen stehen links und rechts auf der Bühne Dutzende geheimnisvolle Kästen, wie eine Vision de Chiricos. Das sind Lautsprecher. Der Chor kommt aus ihnen. Doch nach der Folterszene steht er plötzlich in persona da, proletarisch gewandet, der Saal wird blendend hell, und er singt, nein, schreit: "Und ihr, seid ihr taub? Herdenvieh im Pferch der Schande?" Das geht an uns. Der Atem stockt. Das dokumentarische Bild von Venedig hat Schlieker durch ein rot glühendes Schriftband ersetzt. Auf den drei Etagen des Stahlgerüsts läuft es über die Szene und vermittelt den Text. Ohne die Flammenschrift ginge der Sinn verloren.Die Partien sind trefflich geführt und treffend besetzt. Chris Merritt als Gastarbeiter ist ein älterer, "normaler" Mann, der der virtuellen Welt des Leidens ein lyrisches Belcanto entgegensetzt. Nicht weniger lebt das Nono´sche Belcanto in den Stimmen von Yvonne Wiedstruck und Melanie Walz. Nono ist zweifellos der Verdi des vergangenen Jahrhunderts, was er für Stimmen schrieb, und von ihnen verlangte, findet bei kaum einem anderen Vergleichbares. Im Gesang und in ihrem gegensätzlichen Blond-Schwarz leihen die beiden Sängerinnen der beklemmenden Szenerie jenen Hauch von Schönheit, der das Geschehen überhöht und es um so bestürzender macht. Der meist unsichtbare Chor ist der eigentliche Akteur des Werkes, allgegenwärtig, nicht "Volk", sondern Menschheitsstimme. Einstudiert von Ulrich Paetzholdt, meisterte er Nonos seriell geordneten und syllabisch zersplitterten Gesang in hoher Qualität. Der Musik fällt hier zu, was die Szene verweigert - die Gesten der Zärtlichkeit, der Liebe, des menschlichen Zusammengehörigkeitsgefühls. Peter Rundel vermochte diese Gegensätze in Nonos Partitur souverän zu gestalten und der musikalischen Aggression das Bild der Schönheit entgegenzustellen. Die lyrischen Passagen entfalteten unter seiner Hand ihren Zauber und straften das Vorurteil der Emotionslosigkeit Lügen, das der seriellen Musik noch immer angehangen ist.Zu den Neuerungen Nonos gehörte es, dass eine musiklose Szene improvisiert und mit aktuellem Stoff gefüllt wird. Man hatte auch hier eine erfunden, aber nach dem 11. September wurde sie gestrichen und durch eine andere, stumme, ersetzt. Ein eleganter Mann erschien, ein Mikrophon in der Hand, und redete unaufhörlich, mit leeren Gesten, Hand aufs Herz, Blick gesenkt oder erhoben. Aber seine Rede ist Pantomime, gänzlich stumm. Dazu schrieb eine unsichtbare Hand in Flammenschrift auf die stählerne Konstruktion das Menetekel von den beiden in den Twins von New York explodierenden Flugzeugen. In einem biblischen Kontext durchdenken wir im Saal das Geschehene, nur der Schrift hingegeben, nicht mehr durch die Wucht der Bilder irritiert und verstört.Intolleranza, das Stück über Gewalt, beschwört das Recht der Menschen auf Frieden und Glück. In einer etwas naiven Szene stiftet ein kleines Kind Frieden zwischen den sich blutig schlagenden Frauen. Die Phantasie schiebt vor das Stahlgerüst des Potsdamer Platzes ein anderes Bild, das der Mutter Courage, die am Krieg verdient und verliert und am Ende schreit: "Der Krieg soll verflucht sein."Mit dieser Aufführung hat Berlin viel gewonnen: die Rückkehr des politischen Theaters auf die Opernbühne. Udo Zimmermann hat sein Versprechen der Erneuerung in seiner ersten Produktion eingelöst, ohne Wenn und Aber und schiefmäulige Verweisungen auf Künftiges. Olivier Messiaens Saint-Francois d´Asise wird folgen, auch eine Berliner Erstaufführung. Sein Programm setzt die Reihe der Henze- und Reimann-Uraufführungen Götz Friedrichs glänzend fort. Peter Konwitschny ist der grandiose Durchbruch in Berlin gelungen, den er schon längst verdient hatte. Das wäre das zweite. Man entdeckte ein Ensemble neu, und in Peter Rundel einen Dirigenten im Operngraben, der sich auf dem Berliner Konzertpodium schon oft ausgewiesen hatte. Dies zum dritten.Das ist ein Anfang, wie er nicht schlüssiger hätte ausfallen können.
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