Turmbau zu Leipzig: Wie ein ostdeutscher Rentner die Energiewende lösen will
Windkraft Einst hat er am Berliner Fernsehturm mitgebaut, jetzt hat Horst Bendix ein Windrad erfunden, das den Wind da abholt, wo er am stärksten ist: Oben. Ganz oben
Wie ein Strommast mit Rotor: Andere Windräder würden da knicken wie Halme
Fotos: Mattia Balsamini/SPRIND GmbH
„Wir nehmen uns doch selbst aus dem Spiel!“, ruft Stefan Schad, der IG-Metall-Geschäftsführer Rostock-Schwerin, aus irgendeinem Mecklenburger Beinahe-Funkloch heraus. Schad spricht jenen schönen breiten Küstendialekt von Leuten, die es gewohnt sind, im Wind zu stehen. Aber einfach weggepustet werden, das nicht. In den Rostocker Fertigungshallen können wir uns nicht treffen, die Firma Nordex verweigert den Zugang.
Im Juni hat die Bundesregierung den Turbo-Gang beim Ausbau der Windkraft ausgerufen. Und pünktlich zum Ende des Monats verlässt das letzte große Werk der Windrad-Flügel-Fertigung Deutschland. Auch das ist eine Energiewende. Rückwärts! Es ist verrückt, aber es ist Ökonomie.
Nordex schafft es trotz voller Auf
trotz voller Auftragsbücher nicht in die schwarzen Zahlen. Der dänische Nordex-Konkurrent Vestas schloss sein Brandenburger Werk in Lauchhammer schon Anfang des Jahres. Insgesamt gingen so in den letzten zehn Jahren 60.000 Arbeitsplätze in der Zukunftsindustrie Windkraft verloren, in Rostock sind es noch mal 600.Windräder. Aus Deutschland!Einst habe man den TPI-Zulieferer in Indien mit aufgebaut, sagt Schad, jetzt entsteht das neue Werk der Rotorblattfertigung, das das Rostocker ersetzt, direkt daneben. Brasilien hat auch eine neue Fabrik.In Indien und Brasilien kosten Arbeitskräfte – vergleichsweise – fast nichts, es gibt kaum Umweltstandards, und Nordex muss keine CO₂-Steuer zahlen. Stefan Schad glaubt trotzdem: „Die haben sich komplett verspekuliert.“ Schließlich kommen 62 Prozent der Nordex-Aufträge aus Europa, alles muss künftig um den halben Erdball zurückverschifft werden, die Preise für 40-Fuß-Container haben sich in den letzten eineinhalb Jahren verfünffacht. Ob sich das wirklich lohnt? Abgesehen davon, dass unnötige Schwertransporte um die halbe Welt einem anderen Zeitalter anzugehören scheinen. Die Industrie, die für die saubere Zukunft stehen soll, macht erst einmal den größtmöglichen vermeidbaren Dreck.Wir nehmen uns selbst aus dem Spiel, hat der Mann im Wind gesagt. Aber dieses „wir“ existiert gar nicht, nicht für einen kostengetriebenen globalen Konzern, selbst wenn Rostock das Nordex-Leitwerk weltweit ist und Deutschland mit an der Wiege der Windkraft stand. Aber vielleicht steht es schon wieder an einer neuen Wiege? Höhenwind lautet diesmal das Zauberwort.José Luis Blanco, Geschäftsführer der Nordex-Group, hatte noch einen Grund für die Schließung genannt: Der internationale Trend gehe zu immer größeren Turbinen, die Rostock nicht herstelle. Da reicht es nur bis zu einem Rotordurchmesser von 149 Metern.Immer höhere, immer größere Turbinen? Den Leipziger Rentner Horst Bendix überrascht das nicht. Sagt er doch seit vielen Jahren! Aber so hoch wie sein Windrad werden es die von Nordex, Enercon, Vestas und wie die Marktführer alle heißen, niemals schaffen. Nordex, der „Schwachwindanlagenhersteller“. Ja, wissen die denn alle nicht, wo der Wind weht? Oben. Vor allem oben.Zwischen 100 und 200 Meter Höhe bläst er schon ganz ordentlich. Aber wirklich aufregend wird es erst darüber. Die Energie, die im Wind steckt, steigt mit der Geschwindigkeit in dritter Potenz. Bläst der Wind doppelt so schnell, hat er achtmal so viel Energie in sich!Leider kann Horst Bendix das alles nicht mehr selbst erzählen, seit Jahresanfang ist er sehr krank. Auch Martin Chaumet, Vertrauter, Gegenspieler, Sparringspartner, dessen Firma das Windrad HBX300 nun bauen wird, darf ihn kaum noch besuchen. HBX300: HB steht Horst Bendix. X für Höhenwindtechnologie. Millionen fließen, zweistellig. Es war ein weiter Weg bis zum HBX300.Der Leipziger Ingenieur, heute 92 Jahre alt, Rentner seit mehr als einem Vierteljahrhundert, sah sich außerstande, die Zahlen der Potenzen, die in Windgeschwindigkeiten stecken, wieder zu vergessen. Dabei pflegen Menschen in seinem Alter noch ganz andere Dinge zu vergessen. Und er erkannte seine Aufgabe: Er musste das Windrad der Zukunft erfinden.Eine Höhe von 400 Metern ist möglich. Zum Vergleich: Der Berliner Fernsehturm ist 368 Meter hoch. Das Restaurant in der Kugel befindet sich in nur 207,53 Meter Höhe. Das derzeit höchste Windrad der Welt steht bei Stuttgart, der Turm misst 178 Meter, mit Flügeln 246 Meter. Die Chinesen, hört man, planen mit 280 Metern.Als Horst Bendix anfing, das Windrad der Zukunft zu entwerfen, war er noch beinahe jung, keine 80 Jahre alt. In seine Höhen kommt die Konkurrenz nie, weil ihre Windkraftanlagen falsch konstruiert sind. Sie stecken da auf ihren dünnen Halmen. Die biegen sich einfach in der Mitte durch, wenn sie wirklich hoch hinauswollen, weiß Bendix. Google weiß das auch. Google wollte einst Höhenwind mit fliegenden Turbinen ernten. Auch eine Idee. Aber Google hat unlängst wieder aufgegeben. Nun hat der Leipziger Rentner einen Konkurrenten weniger.Fast 90-Jährige erfinden nichts mehr, die sitzen in ihrem Seniorensessel, schauen abwechselnd in den Garten und auf den Bildschirm. Nur er machte das nie. Horst Bendix hatte zu arbeiten. Er rechnete, plante, noch nach zwei Schlaganfällen. Dabei hat ihn weiß Gott niemand ermutigt, die großen Windkraft-Firmen schon gar nicht. Mitunter antworteten sie gar nicht. Flaute in Bendix’ Briefkasten, Flaute auf seinem E-Mail-Account. Auch auf Messen hatte der alte Mann keinen Erfolg.Fast 90-Jährige melden auch keine Patente mehr an, aber er hat es getan. Am 5. April 2018 wurde das Patent für Horst Bendix’ Windrad vom Europäischen Patentamt erteilt, es trägt die Nummer DE102016014799B4.Einen allerletzten Versuch mache ich noch, beschloss Horst Bendix, bevor ich mich und mein patentiertes Höhenwindrad DE102016014799B4 zur ewigen Ruhe lege. Das war vor bald drei Jahren. Er zog seinen besten Anzug an und machte sich auch den Weg.Wie gut, dass sich die „Bundesagentur für Sprunginnovationen“, SPRIND, 2019 gerade in Leipzig gründete. Alles andere wäre dem Leipziger wohl zu weit gewesen.Was eine Sprunginnovation ist, erklärt ihr Leiter Rafael Laguna de la Vera meist so: eine Erfindung, die die Welt in ein Davor und Danach teilt. So wie in Deutschland um 1900 alles auf einmal erfunden wurde, was nie ganz aufhörte, nur dass inzwischen immer andere die Endprodukte daraus machen. Es gelang Laguna, die damalige Kanzlerin Angela Merkel (CDU) davon zu überzeugen, dass er genau der Mann dafür ist, das zu ändern. Und da lauerte ihm vor den Herrentoiletten ein uralter Mann auf, eine blaue Mappe in der Hand, und redete von einem Windrad. Wahrscheinlich sprach Horst Bendix auch viel zu schnell, wie jeder, der viel zu sagen hat, ohne dass ihm Redezeit eingeräumt worden wäre.„Kurz darauf zog ich eine dünne blaue Mappe aus dem Stapel der Anfangsunterlagen“, erklärt Lagunas Freund und Kollege, der Physiker Martin Chaumet. Es war eher Zufall, dass er nach ihr griff. Aber mit irgendeinem Hefter musste er schließlich beginnen. Und las sich sofort fest.Zoom-Konferenz. Chaumet sitzt in der Leipziger Beventum-Zentrale. Beventum ist der Name der ersten SPRIND-Tochtergesellschaft, gegründet eigens für Horst Bendix’ Windrad. Chaumets Hemd ist ganz himmelblau vor Zukunft, auf der Brust steht in großen weißen Buchstaben „SPRIND“.In Chaumets Stimme schwingt noch immer die ungläubige Freude darüber mit, wie nah der Zufall einen urplötzlich an die Lösung eines großen Menschheitsproblems heranbringen kann. Kurze Zeit später saß der Physiker Chaumet dem Maschinenbauer Bendix gegenüber, sie diskutierten und stritten zum ersten Mal.Es folgte die Prüfung durch Expertenrat und Investoren. Angenommen! Hier, ruft Chaumet: Unser Handelsregistereintrag ist vom 17. Dezember 2020!Wie ein RiesenfotostativDie drei Eiffelturmbeine von Bendix’ Windrad wirken nicht eben avantgardistisch. Sieht das nicht aus wie ein größenwahnsinnig gewordenes Fotostativ? Aber natürlich kann so ein Höhenwindrad nicht oben als Blüte auf einem Stängel sitzen wie bei den anderen, das sah Chaumet sofort ein. Und die Stabilität! Vor allem: 50 Prozent weniger Gewicht wären drin, und 40 Prozent weniger Kosten! Kein Beton mehr, nur Stahl. Chaumet sagt, es können durchaus auch vier Beine werden.Mit vier Beinen wäre das HBX300 schon ziemlich eiffelturmähnlich, vor allem hat es auch genau die Höhe des Originals. 300 Meter. 300 Meter Nabenhöhe, präzisiert Chaumet. Die Nabe ist da, wo die Flügel anfangen. Lasst uns lieber kleiner beginnen, sicher ist sicher, schlug Bendix vor. Sagt Chaumet. Vielleicht dachte der alte Mann an den Ausgang des Turmbaus zu Babel.Dabei waren Bendix’ Berechnungen schon immer höhentauglich, auch wenn er früher beim VEB Kirow-Werke Leipzig mehr Bagger und Kräne für Tagebaue entworfen hatte. Aber der Berliner Fernsehturm! Als da in 200 Meter Höhe die Kuppel aufgesetzt werden sollte, konstruierte er den Kran dafür. Zwei DDR-Nationalpreise hat er bekommen, aber die zählen schon seit 30 Jahren nicht mehr.Der Physiker Chaumet rechnete und rechnete und blieb dabei: Wir nehmen doch 300 Meter, mit Flügeln also 360 Meter. „Es ist wie beim ersten iPhone. Jemand muss es mal bauen!“, sagt Chaumet. Wer ihm zuhört, bekommt irgendwann das Gefühl, er müsste nur das Fenster öffnen, und da stünde es schon, das HBX300. Nicht ganz, sagt der Physiker, er rechne mit 2025. „Wenn wir alle Genehmigungen bekommen.“Bliebe noch eine große Frage: Wo? Dass Enthusiasten dem geflügelten Eiffelturm ihre Vorgärten anbieten, dürfte noch unwahrscheinlicher sein als bei gewöhnlichen Windrädern. Der Physiker schaut, als trüge er einen Trumpf in der Tasche. Er habe schon mehrere Interessenten! Stillgelegte Braunkohletagebaue etwa. Als Chaumet das dem Erfinder des HBX300 mitteilte, habe Bendix nur gesagt: Da hätte ich doch gleich drauf kommen müssen!Wie Rafael Laguna de la Vera denkt auch Chaumet schon weit hinaus in die Zukunft: Mit dem Ding könnte man irgendwann Strom für zwei Cent pro Kilowattstunde erzeugen. Dann wäre Kohle gar nicht mehr konkurrenzfähig, von Kernkraft ganz zu schweigen. Energiewende: geschafft.Sprunginvestition! Stefan Schad lässt das Wort auf seiner norddeutschen, zu breiten Vokalen neigenden Zunge zergehen. Ja, dafür gibt dieses Land viel Geld aus. Überhaupt für Wirtschaftsförderung. „Aber es fehlt die Instanz, die sagt: Diese Kapazitäten müssen wir hier vorhalten!“, sagt Schad. Zumal dann, wenn es sich um eine Zukunftsindustrie, eine Schlüsselindustrie wie die Windkraft handelt.Und das HBX300, wird es im Erfolgsfall den üblichen Fertigungsweg aller Windräder gehen, also den ins Ausland und dann um die halbe Welt zurück? Der Physiker genießt die Frage. Nein, sagt er, ihr Weg sei eher der umgekehrte: „Wir wollen viel vor Ort fertigen lassen, Arbeitskräfte aus dem klassischen Stahl- und Maschinenbau ins Boot holen, lokale Stahlbauer, lokale Elektroinstallateure.“ Industrieller Strukturwandel in Deutschland mit dem HBX300.Chaumet stellt sich Anlagen vor, die von klassischen Stromerzeugern im bisherigen Braunkohletagebau übernommen werden können. Aber auch in bestehende Windparks könnte man noch ein paar geflügelte Eiffeltürme stellen. Und das Beste, ergänzt Chaumet, der in den letzten Monaten auch zum Teilzeit-Zoologen geworden ist: Der Rotmilan fliegt gewöhnlich auf 200 Meter Höhe, genau wie die Weihen, aus der Familie der Habichtartigen. Die begegnen uns nie.Wird Horst Bendix das HBX300 noch mit eigenen Augen sehen? Aber er hat es geschafft. Das Patent DE102016014799B4 ist in der Welt.Placeholder authorbio-1
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