Der letzte Europäer

Porträt Jean-Claude Juncker verlässt die EU-Kommission – und wirkt wie eine tragische Figur aus einer anderen Zeit
Ausgabe 44/2019
Juncker will keinen erneuten Aufschub des Brexits, doch er wird nicht mehr gehört
Juncker will keinen erneuten Aufschub des Brexits, doch er wird nicht mehr gehört

Foto: Kenzo Tribouillard/AFP/Getty Images

Der Spaß an seinem Job schien ihm längst vergangen zu sein. Schon im Januar 2017 hat der scheidende Chef der EU-Kommission angekündigt, dass er nicht für eine zweite Amtszeit kandidieren werde. Es fehle zu oft „an dem Grundeinverständnis über die Dinge, die in Europa zu leisten sind“, so Juncker damals, ein halbes Jahr nach dem Brexit-Referendum in Großbritannien. Anfang 2018 drohte Juncker sogar mit Rücktritt. „Wenn er geht, gehe ich auch“, erklärte er im Streit um seinen mächtigen Spindoktor Martin Selmayr. Der deutsche Jurist war über Nacht zum Generalsekretär befördert worden, das EU-Parlament verurteilte die „handstreichartige Aktion“. Sogar Christdemokraten distanzierten sich von „ihrem“ Kommissionschef. Doch nun, kurz vor dem Ende seiner Amtszeit, fällt dem 64-Jährigen der Abschied schwer. Bei seinem letzten EU-Gipfel in Brüssel kommen ihm die Tränen. Und bei seiner letzten Rede vor dem Parlament in Straßburg präsentiert er sich noch einmal als leidenschaftlicher Europäer: „Bekämpft mit aller Kraft den dummen Nationalismus“, ruft Juncker aus. „Es lebe Europa!“

Es sind Worte, die auch François Mitterrand oder Helmut Kohl gesagt haben könnten, um Europas Zukunft zu beschwören. Doch sie klingen nicht mehr so überzeugend und aufmunternd wie früher. Erschöpft und gebeugt verlässt Juncker das Rednerpult. Müde sind die Umarmungen, mit denen er sich verabschiedet. Man sieht ihm an, wie sehr er leidet. Fünf Jahre lang hat der Luxemburger versucht, sich gegen den Nationalismus zu stemmen, fünf lange Jahre wollte er mit einer „Kommission der letzten Chance“ die EU retten – nun muss er mit ansehen, wie der Brexit die Briten spaltet und Europa lähmt. Jetzt wird deutlich, dass Nationalisten und Rechtspopulisten weiter auf dem Vormarsch sind; in der Juncker-Ära wurden sie stärker denn je.

Dabei ist es nicht etwa so, dass gar nichts gelungen wäre. Als Juncker im Herbst 2014 in Brüssel antritt, ist er so etwas wie ein Hoffnungsträger. Als erster Spitzenkandidat einer Europawahl wird der konservative Politiker zum Chef der Kommission gewählt – gegen den Widerstand von Angela Merkel und David Cameron, die damals noch den Ton angeben. Es ist ein Sieg der Demokratie, ein „europäischer Frühling“ liegt in der Luft. Doch der erste Rückschlag kommt schneller als erwartet. Juncker hat kaum die Arbeit im Brüsseler Berlaymont-Gebäude aufgenommen, als der Lux-Leaks-Skandal beginnt. Immer neue Enthüllungen legen offen, wie Luxemburg zum Steuerparadies geworden ist und welche Konzerne davon profitiert haben.

Das wirft ein schlechtes Licht auf Luxemburgs Ex-Premier, in dessen Amtszeit die Finanzaffären begonnen haben. Doch Juncker gelingt es, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen – und die Affäre zu seinem Vorteil zu wenden: Ab sofort werde sich die EU-Kommission als Vorkämpferin gegen Steuerdumping präsentieren, Juncker selbst als Vorreiter für eine bessere Finanzpolitik.

Schon wenige Monate später gerät er erneut in die Defensive. In der Schuldenkrise um Griechenland macht ihm der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble das Recht streitig, sich für Athen einzusetzen. Rücksichtslos boxt der seinen Kurs durch und versucht, Griechenland aus dem Euro zu drängen. Nur mit französischer Hilfe kann Juncker einen Grexit verhindern. Diese Episode aus dem „deutschen Europa“ (Ulrich Beck) hat er bis heute nicht verschmerzt. „Es ist uns gelungen, Griechenland die Würde zu verleihen, die es verdient hat“, resümiert Juncker bitter. Dass dieser Erfolg mit neuen Rentenkürzungen, Privatisierungen und einem harten Schuldenregime erkauft wurde, das Athen bis heute belastet, erwähnt Juncker nicht.

Es passt wohl nicht zu seinem Selbstbild: Der Sohn eines Stahlarbeiters sieht sich gern als wohltätiger Samariter. Zwei Jahre nach dem Beinahe-Crash in Griechenland hat Juncker der EU sogar eine (unverbindliche) „soziale Säule“ eingezogen, die Arbeitnehmerrechte stärken und Lohndumping erschweren soll. Sie ergänzt den „Juncker-Plan“, ein milliardenschweres Investitionsprogramm, mit dem 1,1 Millionen Jobs geschaffen wurden, heißt es. Mehr Investitionen, mehr Wachstum, mehr Jobs – das soll in Erinnerung bleiben, wenn Juncker im Dezember die EU-Kommission verlässt. Auch seinen Einsatz in der Flüchtlingskrise streicht er gern heraus. Tatsächlich ist er einer der wenigen, die sich 2015 an die Seite von Kanzlerin Merkel stellten.

Doch ausgerechnet jetzt droht das Scheitern des Flüchtlingsdeals mit der Türkei, mit dem Merkel und Juncker das europäische Versagen verdeckt haben. Und ausgerechnet jetzt schwächelt die Wirtschaft, Deutschland droht eine Rezession. Vieles von dem, was Juncker mühsam erarbeitet hat, steht kurz vor seinem Abgang aus Brüssel wieder in Frage.

Er ist ein trauriger Held, der die „letzte Chance“ nach der Eurokrise nutzen wollte und dann mit ansehen musste, wie neue Krisen ausbrachen. Er ist auch der letzte Europäer, der noch die guten alten Zeiten der deutsch-französischen „Achse“ kannte und nun feststellen muss, dass zwischen Berlin und Paris (fast) nichts mehr geht. Seine größte Wunde ist und bleibt freilich der Brexit. Über dem schmerzhaften Bruch mit Großbritannien hat Juncker sogar seinen eigenwilligen Humor verloren. Früher machte er sich über den Brexit lustig: „Alle verstehen Englisch, aber niemand versteht die Engländer.“ Inzwischen ist ihm die Ironie vergangen. „Eine Zeit- und Energieverschwendung“ sei der Brexit, klagt er, als es den Deal mit Boris Johnson gibt. Noch einmal dürfe nicht verlängert werden. Doch schon zehn Tage später gewährt Brüssel den erneuten Aufschub. Der letzte Europäer wird nicht mehr gehört.

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