Der letzte große Dadaist

Musik Auf den Ruinen von Bachs Goldberg-Variationen inszeniert Jacques Palminger ein Fest der Gelassenheit
Ausgabe 07/2016
Jacques Palminger alias Heinrich Ebber alias Hans Fuchs
Jacques Palminger alias Heinrich Ebber alias Hans Fuchs

Foto: Dirk Bogdanski

Keine Angst haben, sich nicht kaputt machen lassen von den Herausforderungen der Flüchtlingskrise, den eskalierenden Debatten, dem wütenden Mob – das ist in diesen Tagen eine verwegene Aufforderung. Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler nannte einen solchen Zustand, in dem scheinbar überlebensgroßen Katastrophen mit einer gewissen Unaufgeregtheit begegnet wird, kürzlich eine Haltung „mürrischer Indifferenz“. Wer mürrisch indifferent bleibt, fordert weder Notstandsgesetze, noch verfällt er Populisten.

Wie so eine Einübung in Gelassenheit praktisch aussieht, das sollten wir vom Hamburger Musiker, Lyriker und Schauspieler Jacques Palminger lernen. Palminger, der unter anderem in der revolutionären Band Dackelblut spielte, brillante Soloplatten veröffentlichte und mit Heinz Strunk und Rocko Schamoni das Studio Braun erfand, dieser Jacques Palminger hatte vergangenen Sonntag in den Roten Salon der Berliner Volksbühne geladen. Gemeinsam mit dem Jazzmusiker Lieven Brunckhorst (Blumfeld, Jan Delay) und dem Psychoakustiker Jörg Follert inszenierte Palminger auf den Ruinen von Johann Sebastian Bachs Goldberg-Variationen eine Art lyrisches Gesamtkunstmusical.

Gleich in der ersten der frei vorgetragenen Geschichten offenbarte sich das Mantra des Abends. Ein zufällig herbeigetriebener Glückskeks gab darin preis, was Palminger mehrere Male wiederholen wird: „Die Angst ist in ihrem Innern hohl, und nichts umgibt sie.“ Here we go, am besten ruft man es sich ein Leben lang zu. Auf Gitarre, Saxofon, Querflöte und Konzertflügel spielte Brunckhorst zu den Miniaturen, Analysen und Beschwörungen immer wieder Fragmente aus den Variationen; stark verzögerte, frei interpretierte, doch immer erkennbar bleibende Versatzstücke aus Bachs Komposition. Palmingers größte Gaben sind eine messerscharfe Sprache sowie ein Denken in uneingeschränkten Möglichkeitsräumen. Die Texte beginnen voraussetzungslos, spannen dann aber einen weltumfassenden Bogen. Der Mensch, die Ideale, das Andere.

Ein Reh ausbeinen

Einmal imaginieren wir uns in einen Schützengraben, wo ein Soldat sich mit einer explodierenden Handgranate wärmt, ein anderes Mal befinden wir uns in einem Kreditinstitut („die einzige Raucherfiliale mit Ausschank“), in der ein Bankangestellter, ein Reh ausbeinend, sich hinter einer riesigen Goldmünze versteckt und fragt: „Wie viele Seiten hat eine Medaille?“ Das all diese segensreiche Pointenlosigkeit derart lustig ist, dass man seinen Sitznachbarn pausenlos schlagen möchte, liegt auch an Palmingers strengem Stil und seiner Diktion, die den bloßen Effekt des Ironischen so gut es geht in die Schranken weist. Man könnte Palminger im Jahr 100 nach Hugo Ball auch den letzten großen Dadaisten nennen. In der finalen Geschichte des Abends mahnt er das Publikum, selbst im Angesicht der größten Katastrophe (ein Freund stirbt durch ein herabstürzendes Flugzeug) nicht wütend zu werden: „Wir sollten nicht murren, uns nicht einmal wundern!“

Der ganze Abend ist ein meditativer, beherzter Kraftakt gegen Angst, Besorgnis und Wut. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass in Hamburg keine 24 Stunden zuvor der berühmte Golden Pudel Club von Palmingers Freund Rocko Schamoni in Flammen aufging: einer der letzten utopischen Orte, an denen ebenfalls alles möglich war. Wenn wir Jacques Palminger richtig verstanden haben, sollten wir uns darüber nicht wundern.

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Geschrieben von

Timon Karl Kaleyta

Timon Karl Kaleyta, in Bochum geborener Autor und Musiker, gründete 2011 in Düsseldorf das Institut für Zeitgenossenschaft IFZ.

Timon Karl Kaleyta

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