In Thüringen ist der 6. Mai 1944 ein Frühlingstag wie aus dem Bilderbuch: Sonne, milde Winde. Gert Schramm schippt gerade öligen Schlamm aus der Lkw-Grube der Autowerkstatt Greiner in Bad Langensalza, als er zwei Männer ohne Oberleib in die Werkstatt treten sieht. Vier Beine, zwei Ledermäntel. Jungarbeiter Schramm ahnt: Gestapo. Fünf Minuten später hat er Gewissheit: Die Zeit der Duldung des "Fremdartigen" Schramm am "deutschen Volkskörper" ist vorbei. Ab heute entscheiden andere über das Leben des 15-jährigen Thüringers mit der dunklen Haut.
In den folgenden Wochen lernt Gert Schramm die Polizei-Zellen in Bad Langensalza, die Keller der Erfurter Gestapo-Zentrale, durch deren Flure heute Landtagsabgeordnete und Minister eilen, das Poliz
eilen, das Polizeigefängnis auf dem Petersberg und die Baracke am Weimarer Marstall, dem Gestapo-Hauptquartier, kennen. Irgendwann im Sommer, stickige Hitze durchwabert die Baracke, wird Schramm wieder in den Marstall geführt. Ein rotes Blatt Papier liegt auf dem Tisch: "Schutzhaftbefehl". Dem Geschriebenen ist zu entnehmen, der Junge habe nach dem "Reichsrassegesetz" in Haft zu bleiben "nicht unter 15 Jahren". Schramm unterschreibt sein Urteil ohne Prozess. Am 20. Juli muss er auf einen Laster klettern. Die Fahrt dauert keine Viertelstunde. An ihrem Ende warten ein Tor und ein Spruch wie ein Fallbeil: "Jedem das Seine". Aus Gert Schramm, geboren am 28. November 1928 in Erfurt, Nettelbeckufer 15, ist Nummer 40 489 geworden: der jüngste deutsche Häftling im Konzentrationslager Buchenwald.Ausgemergelt im Baukommando: "Die Kommunisten haben mein Leben gerettet""Ich war eigentlich nicht besonders erschüttert oder verzweifelt. Negative Dinge habe ich immer abzuschütteln versucht wie ein Hund die Flöhe." Gert Schramm sitzt in der Kneipe Zum Handwerker in Eberswalde (Brandenburg), die heute Schwiegersohn und Tochter gehört. Wie der Ritter, ein paar Straßen weiter. Das Taxi- und Speditionsunternehmen hat Sohn Bernd vor zwei Jahren übernommen. Zu DDR-Zeiten war es das einzige private Fuhrunternehmen in der Stadt. Heute kurvt Schramm ohne tickenden Taxameter im Daimler durch die Straßen, grüßt nach links, rechts, vorn. Ein Taxifahrer am Bahnhof meint: "Wer Schramm nicht kennt, der hat ´ne Bildungslücke." Nur die Lokalzeitung wolle nichts von ihm wissen, poltert der 72-Jährige: "Weil ick die Lüjen nich´ mitmache und nich´ die Schnauze halte über den janzen Mist, der hier läuft." Über den "janzen Mist" kann sich Gert Schramm, sonst nicht eben redselig, in halbstündigen Monologen ereifern. Es wird davon noch zu reden sein. Klar ist: Als freundlicher Erzählopa für die Geschichtsstunde oder Gedenktagsredner taugt er nicht.Schramms Vater Jack Bransken war Ingenieur in einer US-Stahlbaufirma, die während der zwanziger Jahre in Deutschland mutmaßlich gut im Geschäft stand. Es war wohl die Suche nach einem soliden Anzug, die den farbigen Amerikaner zum Erfurter Nettelbeckufer führte, hinein in die bekannte Schneiderei Schramm. Bransken lernte Marianne, die Tochter des Firmenchefs kennen. Als sie 1930 heiraten, stolpert der kleine Gert schon durch Stofflager und Nähsaal. Dem Liebling von Großvater Kurt fehlt es an nichts, höchstens an seinem Vater, der häufig Monate unterwegs ist. 1941 wird Bransken, als er gerade aus den USA zurückkommt, verhaftet. Seine Spur verliert sich auf einem Transport nach Auschwitz. Als die Mutter einem anderen Mann nach Witterda bei Bad Langensalza folgt, beginnt für Gert die Zeit der Beschwernisse. In einem Thüringer Dorf wie Witterda gehören in jenen Jahren "Neger" nicht eben zu den erwünschten Spielgefährten. Und der Schuldirektor ist auch noch Ortsgruppenführer der NSDAP.Autoschlosser will Gert werden, als die acht Jahre Volksschule vorbei sind. Für "Fremdrassige" und "Mischlinge" aber gibt es keine Lehrstellen. Also wird er "Jungarbeiter" bei Greiner in Langensalza und darf die Drecksarbeiten erledigen, während rassisch unbedenkliche Lehrlinge sich dem deutschen Automobilwesen in Theorie und Praxis nähern. "Gelernt habe ich aber genauso viel wie die, bis zum 6. Mai 1944."Im Konzentrationslager Buchenwald, im Block 42, dem Block der "Politischen", ist Gert nach drei Wochen im Steinbruch - zu Tode erschöpft. Da gelingt es einem in der "Arbeitsstatistik"-Abteilung beschäftigten Häftling, den ausgemergelten Jungen ins Baukommando 3 umzuschreiben. Dort schiebt ihm der Kapo leichte Arbeit zu: Essen ausgeben, Schüsseln putzen. Nachdem der Junge wieder einigermaßen bei Kräften ist, sorgt eine unsichtbare Organisation für Sicherheit, soweit das in der Hölle Buchenwald überhaupt möglich ist: Er wird in eine Nebenabteilung der Gerätekammer versetzt, wo Möbel repariert werden. SS-Leute lassen sich kaum blicken. So bleibt es bis zur Befreiung Buchenwalds im April 1945. Willi Bleicher, der ihn ins Baukommando umschrieb, war Gewerkschafter und Kommunist. Der Kapo Robert Sievert: Kommunist. Der Blockälteste Otto Grosse, der dafür sorgte, dass der Junge beim Zählappell stets unauffällig in der Menge stand: Kommunist. Gert Schramm, der sich nie an eine Partei binden ließ, legt Wert auf die Feststellung: "Die Kommunisten haben mir das Leben gerettet." Über das alltägliche Grauen auf dem Ettersberg findet Schramm nur wenige Sätze. Über den Rauch des Krematoriums, der an manchen Tagen aufwärts kroch bis zu den SS-Kasernen. Über den blutigen Leichnam von Wolfgang Kohn, dem jungen Juden aus Leipzig, mit dem sich Schramm befreundet hatte, und den der SS-Blockführer beim Appell erschlug, weil Kohn sich bewegt hatte. Über "Juschu" Zweig, das Kind eines jüdischen Rechtsanwalts aus Krakau, dessen Überleben Bruno Apitz in Nackt unter Wölfen beschrieben hat. Über Bewacher, die besonderes Ergötzen darin fanden, Hunde auf Menschen zu hetzen oder Häftlinge am "Marterpfahl" langsam ausbluten zu sehen.Als die Amerikaner am 16. April Weimarer Bürger nach Buchenwald führen und die entsetzten Besucher zwischen den mannshohen Leichenbergen zusammenbrechen, schaut Schramm fast erstaunt auf die Szenerie. Für ihn ist der Tod längst zum Leben geworden, Tageserfahrung wie Essen und Appell. Im Juni 1945 endlich kann er den schrecklich vertrauten Ort verlassen, die Mutter wartet auf ihn in Bad Langensalza.Republik-Heimkehrer mit Fuhrpark: "Ich hab´s nicht bereut""Are you Schramm?" will ein US-Militärpolizist wissen. Vor der Tür wartet ein Jeep, die Fahrt geht raus aus der Stadt zum ehemaligen Heeresverpflegungsamt der Marine. "Passen Sie auf, Schramm. Außen wird bewacht von uns, damit nicht geklaut wird. Alles, was drin passiert, haben Sie zu organisieren und zu verantworten." Dann steht der 17-Jährige allein in einer Kathedrale aus Brot, Konserven, Mehl. Als Chef. Letzte Weisung vom Captain: "Was Sie brauchen, nehmen Sie sich ruhig. Nur keine Geschäfte machen." Schramm nimmt die Order ernst. Als die sowjetische Armee im August Thüringen übernimmt und die Amerikaner zuvor das Depot entleeren, wird der "Chef" zwar arbeits-, nicht aber brotlos. Ein Dreivierteljahr machen Mutter und Sohn nichts außer leben. Bis die Speisekammer leer ist. Dann geht Schramm für sechs Jahre in den Uranbergbau der Wismut.Irgendwann im Jahr 1956 klopft ein Bekannter zuhause in Langensalza ans Fenster, der schon länger "drüben" arbeitet, als Bergmann im Ruhrgebiet. "Komm´ doch mal mit." Schramm erhält die Genehmigung zur Reise, fährt, schaut und bleibt. Acht Jahre lang sprengt der Thüringer in der Essener Stinnes-Zeche Hagenbeck Kohle und verdient "richtig gutes Geld": 1.500 bis 2.000 Mark schon im ersten Jahr. Netto und West. Mit 28 Jahren. Gert Schramm pendelt die deutsch-deutschen Verhältnisse aus. Ein Gewinner im Interzonenzug. 1964, drei Jahre nach dem Bau der Mauer, bricht er das Experiment ab und kehrt in den Osten zurück."Sicher war das ungewöhnlich", räumt er ein und lässt sich vom Schwiegersohn im Handwerker noch ein kleines Bier bringen. "Mein ganzes Leben war sehr ungewöhnlich. Naja, teils wollte ich zurück in die Heimat. Meine damalige Frau musste in der Nähe ihrer Eltern sein. Die haben in Thale gewohnt und nicht in Köln." Schramm setzt das Glas hart auf den Tisch. "Da sind wir halt wieder zurück. Ich hab´s nicht bereut."Taxi-Unternehmer mit starken Worten: "Rufense jetzt den Jenossen Axen an ..."Dem Republik-Heimkehrer wird der Arbeitsort Eberswalde zugewiesen; er landet beim VEB Kraftverkehr und nimmt dort den Faden auf, den 20 Jahre zuvor die Gestapo-Leute in Greiners Autowerkstatt zerrissen hatten: Gert Schramm macht an der Abendschule den Abschluss als Kfz-Mechaniker und den Meisterbrief gleich noch dazu. Er wird Werkstattleiter, Abteilungsleiter, wechselt ins Tiefbaukombinat und findet sich nach wenigen Jahren als Fuhrpark-Chef wieder, ist verantwortlich für 500 Mann, Autos, Bagger, Planierraupen. Er hält den Laden am Laufen, auch indem er halblegale Austauschbeziehungen mit den Russen pflegt, die zu Zehntausenden in und um die Stadt stationiert sind. Schramm verklickert das eine gegen das andere, Beton gegen Diesel oder Kies gegen Ersatzteile. Tritt ein in die Mühlen planvoller Mangelverwaltung und strahlender Siege, die doch nur Treten auf der Stelle sind. Als er wieder einmal mit 50 Lkw die Leistung von 70 bringen soll, obwohl nur für 30 Sprit da ist, steht Schramm in der Kombinatsleitung auf und sagt: "Schluss. Ich mache das Theater nicht mehr mit. Ich kündige." Dem verdatterten Chef, der ihm hochrot nachbrüllt, er werde nach dieser Vorstellung nirgends einen ähnlichen Posten kriegen, bescheidet Schramm: "Brauch´ ich nicht, du Pisser. Ich mach´ meinen eigenen Betrieb auf." Es ist das Jahr 1985. Und Eberswalde tiefste DDR-Provinz.Als ihm ein CDU-Mann im "Rat der Stadt" die Gewerbezulassung verweigert, beschließt Schramm zum ersten und einzigen Mal die "Buchenwald-Connection" spielen zu lassen. Er fährt nach Berlin, zum Haus mit dem monumentalen Parteiabzeichen an der Fassade: Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. "Ich muss mal den Jenossen Axen sprechen!" Die Wachen wollen ihn abwimmeln, zumal Schramm nun wirklich kein rotes SED-Mitgliedsbuch vorweisen kann. Der Eberswalder besteht jedoch auf Zutritt zum Politbüro-Mitglied und wird laut: "Rufense jetzt den Jenossen Axen an und fragen´se ihn, ob er wirklich keene Zeit für sein´ Kameraden Gert Schramm von Block 42 hat!" Ein paar Tage später beglückwünscht der nämliche Eberswalder CDU-Funktionär den "sehr geehrten Bürger Schramm" zur Eröffnung seines Taxiunternehmens. Mit fünf Wolgas gibt Taxi-Schramm Vollgas in die begrenzte Freiheit. An den Sohn Bernd hat er 1999 ein intaktes Speditionsunternehmen mit fast 50 Beschäftigten übergeben.Eberswalde: Stadt am Oder-Havel-Kanal, 45.000 Einwohner. Keine russische Garnison mehr. Auch keine Würstchen mehr, nur noch ein verzwergter Rest des ehemaligen Kranbaus. Im schicken neuen Hafen kein einziges Schiff. Ein "bei Berlin"-Ort eben wie so viele in Brandenburg. Der heutzutage bekannteste Eberswalder war kein Einheimischer und ist tot: Amadeu Antonio, Vertragsarbeiter aus Angola, von haarlosen Stiefeldeutschen erschlagen und zertreten am 25. November 1990. Das erste Todesopfer von Fremdenhass in Ostdeutschland.Gert Schramm hat die Hälfte seines Lebens in dieser Stadt verbracht; die bessere, wie er betont. Er sagt: "Eberswalde ist nicht schlimmer als andere Städte." Und zeigt, wo die Grenzen verlaufen zwischen "linkem" und "rechtem" Viertel. Nein, ihm würden die Glatzen nichts tun. Nur einmal wollten ihm drei trunkene Skins im Taxi das Geld abpressen. Dem Anführer habe er ganz ruhig entgegnet, dass er das Auto dann eben an den nächsten Baum setzen werde, mit der gesetzlich zulässigen Höchstgeschwindigkeit selbstverständlich. Man beendete die Fahrt im gegenseitigen Einverständnis sowie mit Trinkgeld für Schramm.Noch heute fährt Schramm gelegentlich nach Buchenwald, wo er den Forschern mit seinen Erinnerungen hilft, aus dem Wust der Daten und Dokumente ein genaueres Bild der Vergangenheit zu formen. Aber er lässt sich von niemandem vereinnahmen, auch nicht von Berufslinken und Antifa-Aktivisten. Und erst recht nicht, wenn die gegen den jährlichen Schützenumzug in Eberswalde wettern. "Einfach Humbug". Schramm marschiert selbst mit. In Uniform. Und nächstes Jahr darf vielleicht Moritz mit, ein Rottweiler, dem Herrchen erst noch ein "bisschen Ordnung" beibringen muss.Schramm findet, dass Dummheit und Ignoranz in jedem Lager zu finden seien. Da inszeniere man den "Aufstand der Anständigen" als Besorgten-Stadl mit Kanzlerlächeln, und wenig später beginne Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) Uta Leichsenring, die unbequeme Polizeipräsidentin von Eberswalde, abzusägen. Nein, sagt Gert Schramm, als die Stadt sich mit Licht putzt für die Nacht, als Fremder fühle er sich nicht. "Nur wegen der paar Idioten, die Schwächere brauchen, um stark zu sein?" Gert Schramm, farbig und deutsch, will Einheimischer sein, mehr nicht. Wahrscheinlich ärgert es ihn am meisten, wenn andere vermuten, er wolle als ehemals Verfolgter Beachtung finden, als quasi moralische Instanz. Möglicherweise verweigert er sich deshalb seit Wochen einer Dokumentarfilmerin, die ihn in die USA mitnehmen möchte, wo sie die letzten jener US-Piloten sprechen will, die einst ebenfalls in Buchenwald gefangen waren. Gert Schramm mag nicht als Opfer vorgestellt werden. Auch nicht als Sieger. Sondern als der Mensch, der nicht Nummer 40 489 blieb.
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