Der 9. November 2020 ist ein frühlingshaft milder Tag und Corona blockiert die Atemwege der Welt. In Deutschland hat der zweite Teil-Lockdown begonnen. Gastronomie und Kultureinrichtungen sind geschlossen; Kontakte beschränkt; touristische Übernachtungen verboten. So will man das exponentielle Wachstum von Covid-Infektionen stoppen. Die Gesellschaft ist gespalten. Politiker diskutieren, Querdenker demonstrieren, Journalisten kommentieren.
Der neue Roman von Christoph Peters erzählt diesen Tag und seine überraschenden Wendungen im Leben des prominenten Radiomoderators Kurt Siebenstädter. 31 Jahre nach dem Mauerfall scheint dieser Journalist in der Mitte der Berliner Gesellschaft angekommen. Gut bezahlter Mitarbeiter beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk, Ehe
dfunk, Ehefrau und Kind, Eigenheim im Friedrichshain. Und doch steht sein Dasein auf der Kippe. Denn der 51-Jährige ist nicht nur genauer Beobachter des Politik-Betriebs und seiner gnadenlosen Spiele um Machterhalt. Er glaubt auch an nichts und wählt seine Interviewpartner ebenso frei wie seine provozierenden Fragen, mit denen er die Unwahrheiten der Parteiendemokratie und einer verfilzten Kungelei-Gesellschaft aufdecken will: „Die einzige Chance, nicht hirngewaschen, weichgespült, rundgeschleudert zu werden, als nasser Lappen zu enden, war umfassende Skepsis gegenüber allem und jedem. Nur solange er sämtlichen guten und bösen Absichten, allen hehren und schmutzigen Zielen, lauteren und niederen Motiven misstraute, auf keiner Seite stand, konnte er tun, wofür er trotz allem noch immer bezahlt wurde: Bloßstellen, Entlarven, Aufklären.“Als die Pandemie zu verschärften Zwangsmaßnahmen und medialer Hysterie führt, ändern sich die Spielregeln. Skepsis ist nun nicht mehr eigenständiges Denken, sondern gilt als staatsgefährdend; die Bezeichnung „Skeptiker“ wird zum stigmatisierenden Schimpfwort. Siebenstädter muss auf der Straße panische Angst vor seinem unmaskierten Gesicht erleben und im Sender raunende Warnungen hören. „Zusammen mit dem Ärger, den du dir ohnehin schon regelmäßig einhandelst, kann da schnell eine Lage entstehen, wo du zumindest in deiner jetzigen Position für uns nicht mehr zu halten bist“, erklärt ihm der Chefredakteur für Politik. Zuvor wurden von ihm die Aufgaben der Staatsmedien klargestellt: Freiheit und Bürgerrechte hätten „nach Ansicht nahezu aller Virolog:innen, Epidemiolog:innen, Intensivmediziner:innen“ nur zweite Priorität; die öffentlich-rechtlichen Anstalten sollten die Zustimmung zu Eindämmungsmaßnahmen fördern, statt kritische Eingaben selbst ernannter Bürgerrechtler:innen zu verbreiten. Zugleich warnt man den Moderator vor allzu direkten Nachfragen nach chinesischen Verantwortlichkeiten für die Virus-Explosion.Chefapokalyptiker der SPDDoch ist Siebenstädters Position nicht nur im Sender gefährdet. Auch die politische Klasse beobachtet ihn misstrauisch. Gesundheitsexperte Bernburger, der als „Chefapokalyptiker der Sozialdemokraten“ im Bundestag sitzt, fordert Loyalität gegenüber Regierungsbeschlüssen: „wo wir am Beginn der zweiten Welle stehen, Weihnachten, Silvester in totaler Isolation und mit Millionen Toten drohen, wäre es wichtig, wenn auch jemand wie Sie uns dabei helfen würde, die Bevölkerung mit etwas gezielterer Auswahl der Fakten und sanftem Druck auf unsere Seite zu ziehen.“ Als sich der Journalist weigert, will der Politiker dessen persönliche Beziehungen, deren Schwachpunkte ins Visier nehmen lassen.Schließlich gärt es auch in der Familie des Journalisten. Die deutlich jüngere Ehefrau geht frustriert eigene Wege; die 13-jährige Tochter Nora hält ihn für einen reaktionären alten Sack und will für ein Schuljahr in die USA. In dieser Krise erhält Kurt Siebenstädter überraschende Angebote: Der Chef der Liberalen Partei, Martin Buchner, lässt ihn in die Parteizentrale in der Reinhardtstraße chauffieren. Drei liberale Alphatiere machen dem Journalisten eine lukrative Job-Offerte. Was diesen umso mehr irritiert, als ihm im Verlauf des Tages bereits mehrfach das Ende seiner Radio-Karriere angedroht worden war.Zum anderen umgarnt ihn die Spitzenfrau der Sozialdemokratischen Partei mit brisanten Hintergrundinformationen und persönlichen Ansagen. Maria Andriessen („von Haus aus Literaturwissenschaftlerin“!) lädt ihn ins Abgeordnetenbüro ein. Sie bietet Whisky sowie eine explosive Story über den amtierenden Bundesgesundheitsminister: Trotz Kontaktbeschränkungen soll dieser Minister ein exklusives Spenden-Dinner veranstaltet haben. Ein Dutzend Gäste, ohne Abstand, ohne Test und mit den Spitzen jener Spar- und Kreditgenossenschaft, die ihm seine luxuriöse Villa finanzierte. Tief in der Nacht kontaktiert die Politikerin den Journalisten erneut. Nun wechseln sie persönliche Textnachrichten, die einen Abgrund aufreißen, in den der Radiomoderator stürzen kann. Was er aus diesen Möglichkeiten macht, sollte man unbedingt selbst lesen.Die Handlung des clever gebauten Romans endet in den frühen Morgenstunden des 10. November 2020 vor dem Mikrofon des Hauptstadtstudios so abrupt und verstörend, dass hier nicht spoilernd vorzugreifen ist.Autor Christoph Peters erweist sich als genauer Leser von Wolfgang Koeppens 1953 veröffentlichtem Roman Das Treibhaus,der als Vorbild für Peters’ literarische Gestaltung des Politikbetriebs unserer pandemisch-postfaktischen Gegenwart fungiert. Die motivischen und kompositorischen Parallelen sind beabsichtigt und Teil des Spiels. Zu ihnen gehören Referenz-Beziehungen zwischen Textfiguren und Realpersonen, die aus der Lektüre auch ein Spiel der Entschlüsselung machen. Während im Roman von Koeppen fiktionalisiert die alten weißen Männer der frühen Bonner Republik erscheinen (Bundeskanzler Konrad Adenauer und der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher), lässt Christoph Peters im Sandkasten die Puppen der letzten Merkel-Monate tanzen: Gesundheitsexperte Bernburger ist als „Kassandra der Nation“ in karierten Tweed-Anzügen so leicht zu identifizieren wie die SPD-Hoffnungsträgerin Maria Andriessen (deren reales Vorbild inzwischen aus dem Willy-Brandt-Haus ausgezogen ist). Gesundheitsminister Sven Scheidtchen ist an Jens Spahn angelehnt. Unschwer zu ermitteln sind auch die realen Vorbilder für den „Oberliberalen“ Martin Buchner und den „fleischgewordenen Herrenwitz“ Lothar Radunski. Auch die Medienmaschine wird anhand des Redaktionsalltags im Hauptstadtstudio und knapper Bemerkungen präzise geschildert.Aufschlussreich sind die Unterschiede. Koeppens Roman erzählt die Geschichte eines ehemaligen Journalisten, der während der Nazizeit im englischen Exil war und nach 1949 als Bundestagsabgeordneter für die SPD seine kompromisslosen Positionen zu wahren sucht. In Peters’ Roman agiert ein Hauptstadtjournalist, der substanzielle Positionen verloren hat und dessen Schlingerkurs zeigt, was geschieht, wenn Akteuren der politisch-medialen Welt der moralische Kompass abhandenkommt.Placeholder infobox-1