»Ich hatte einen Traum«, erzählte Mullah Muhammad Omar einem pakistanischen Journalisten. In dem südafghanischen Dorf Sanghissar sei ihm im Sommer 1994 der Prophet erschienen und habe ihn beauftragt, dem Land endlich Frieden zu bringen. Nach diesem Traum ist der islamische Geistliche, ein Enddreißiger, der wie viele Landsleute sein genaues Alter nicht kennt, zum mächtigsten Mann Afghanistans aufgestiegen. Mullah Muhammad Omar, zur Erinnerung an seine Kriegsteilnahme gegen die sowjetischen Besatzungstruppen zuweilen mit dem Beiname »Mudschahed« versehen, beherrscht an der Spitze der Taleban heute mehr als vier Fünftel des in 20 Jahren Krieg zerstörten Landes.
Doch für den europäischen Zeitungsleser ist er nach wie vor ein »Mann
»Mann ohne Gesicht«. Dem Vernehmen nach konnte ihn bisher niemand fotographieren - die Berliner Zeitung und der Spiegel veröffentlichten dennoch Bilder von Mullah Muhammad Omar. Im ersten Fall war in Wirklichkeit die »Nummer 2« der Taleban, Mullah Muhammad Rabbani, zu sehen. Und wer der Mann auf dem Spiegel-Foto tatsächlich ist, weiß man wohl nicht einmal in der Hamburger Redaktion so genau. Sollte es sich wirklich um Muhammad Omar handeln, müßte die Aufnahme mindestens zehn Jahre alt sein, denn der Mann darauf hat noch beide Augen - Omar aber verlor eines im Kampf gegen die Sowjets, deren letzter Soldat das Land am 13. Februar 1989 verließ.Mullah Omar blieb unsichtbar, so daß sich lange das Gerücht hielt, er existiere gar nicht wirklich, sein Name stehe nur als Symbol für die Islamische Bewegung der Taleban, die im Sommer 1994 wie aus dem Nichts auf der Bildfläche erschien. Berichte von Besuchern, daß er zwar sehr aufmerksam zuhöre, sich aber selbst kaum äußere, verstärkten noch ein zweites, schwerwiegenderes Gerücht: Nicht Omar, sondern der pakistanische Militärgeheimdienst ISI gebe den 35.000 bis 50.000 Taleban-Kriegern die Befehle. Doch so, wie man inzwischen weiß, daß die Taleban-Soldaten aus den Koranschulen islamistischer Parteien in Pakistan und afghanischen Flüchtlingslagern hervorgingen, ihr Geld vom Südufer des Persischen Golfs stammt, werden langsam auch die Konturen der Person des Taleban-Führers Omar schärfer.Geboren wurde Omar irgendwann vor knapp 40 Jahren, entweder in der zentralafghanischen Provinz Oruzgan oder in der Nähe der alten Königsstadt Kandahar. Er ist Paschtune, aber schon über seine genaue Stammesangehörigkeit gehen die Angaben auseinander. Sein Vater sei ein armer Bauer gewesen. Nach dessen Tod ging Omar kurz vor dem sowjetischen Einmarsch Weihnachten 1979 in das kleine Dorf Sanghissar, um sich dort als Dorfmullah zu verdingen. Mullahs standen im Vorkriegsafghanistan weit unten in der sozialen Hierarchie: Sie wurden von der örtlichen Bevölkerung versorgt und waren deshalb de facto Abhängige - eigentlich nichts Erstrebenswertes für einen stolzen Paschtunen.Nach dem sowjetischen Einmarsch kämpfte Mullah Omar als Mudschahed und stieg in die untere, lokale Kommandoebene auf. Aus dieser Zeit muß das Foto aus dem Spiegel stammen, wenn es denn Omar wirklich zeigt. Nach dem Abzug der Sowjets kehrte er nach Sanghissar zurück, wo er sich auf dem Gelände der örtlichen Koranschule wieder islamischen Studien zugewandt haben soll. »Er führte uns beim Gebet«, erinnert sich ein alter Bauer, »heute ist er eine hochgestellte Persönlichkeit, aber er erkennt mich immer noch.«Mullah Omar war empört darüber, wie sich die Mudschahedin-Führer nach Vertreibung der fremden Eroberer ein blutiges Ringen um die alleinige Macht in der Ruinenstadt Kabul lieferten und so die Idee verrieten, eine islamische Ordnung zu errichten. Nachdem ihm der Prophet im Traum erschienen war - so will es die Gründungsmythologie der Taleban -, habe Mullah Omar im Sommer 1994 mit 33 Gleichgesinnten diese Bewegung gegründet. Kurz darauf schon, als sich ein militärisch aktiver Mudschahedin-Kommandeur anschloß und die ersten Waffen mitbrachte, begann ein beinahe unwiderstehlicher Siegeszug, der mit der Einnahme Kabuls im September 1996 seinen Höhepunkt erreichte. In jenem Jahr verlieh eine Versammlung von 1600 hohen Geistlichen dem einfachen Dorfmullah auch den Titel Amir ul-Mumenin - Oberhaupt der Gläubigen -, wie ihn die vier ersten Kalifen nach dem Propheten Muhammad führten. Die Zeremonie erinnerte an jene Stammesversammlung, die 1747 ebenfalls in Kandahar den jungen Ahmad Abdali zum ersten Emir Afghanistans gewählt hatte, und unterstrich damit den Herrschaftsanspruch der Taleban auf das ganze Land.Inzwischen soll Mullah Omar nach Kandahar, in die Hauptstadt der Taleban-Bewegung, gezogen sein und dort noch immer unter bescheidenen Umständen leben. Es heißt, er habe ein drittes Mal geheiratet: die Tochter Usama bin Ladens, des Islamisten, den Washington wegen einer möglichen Verwicklung in die Bombenanschläge auf die US-Botschaften in Nairobi und Daressalam sucht und dessen Auslieferung von den Taleban gefordert wird. Nachdem zwischen dem Gesuchten und Mullah Omar jetzt sogar Familienbande bestehen, sind die Aussichten darauf wohl auf Null gesunken.