Es gibt Fotografien, die wirken wie alte Vertraute. Auf einem Holzstuhl steht ein kleines Mädchen mit nackten Füßen, gestützt durch einen von links ins Bild hineinragenden Arm macht es den Fototermin zur wackeligen Angelegenheit. Doch trotz der kindlichen Unsicherheiten: diese Schwarzweißaufnahme wirkt wie ein Überbleibsel bürgerlicher Porträtfotografie. Mit einem weißen, verschnörkelten Kleid und einem Sommerhut, der etwas zu groß über den kleinen Kopf ragt, hat der Fotograf die Insignien bürgerlicher Selbstinszenierungen vor der Linse ausgestreut. Mode- und Möbeldesign verraten etwas von jenem Viktorianischem Chic, wie man ihn im England des Fin de siècle pflegte.
Doch etwas scheint faul an der Sache. Die Zeichen m
Zeichen mögen stimmen, allein sie wirken angekratzt. Bei genauerem Hinsehen hat der Stuhl die besten Jahre schon hinter sich, und ein Zug von Schrecken auf dem Kindergesicht lässt für die Zukunft nichts Gutes ahnen. War die Porträtfotografie für die Mitglieder englischer Tee- und Bridgegesellschaften einst eine willkommene Möglichkeit, Wohlstand und Potenz zu inszenieren, so wirkt diese Aufnahme allenfalls noch wie eine Verballhornung bürgerlicher Rituale. Ein gezielter Blick, und die Macht kippt hier zur Ohnmacht um. Das verängstigte Mädchen auf seinem wankenden Stuhl offenbart in jeglicher Hinsicht eine Zitterpartie. Nichts anderes dürfte der Fotograf im Sinn gehabt haben, als er Ende der neunziger Jahre dieses Bild machte. Doch ihm geht es um mehr als den kleinen Taumel - seine fotografischen Zeichen deuten auf eine Welt, die längst über die eigenen Beine gestolpert ist.Als Fazal Sheikh 1998 dieses Bild in seinem Fotobuch The Victor Weeps veröffentlichte, konnte er noch nicht ahnen, dass seine eigene Herkunft einmal mit dem hier abgebildeten Sujet in Konflikt geraten könnte. 1965 in New York geboren, studierte Sheikh an der Princeton University und ist seither weltweit als fotografischer Dokumentarist unterwegs. Für seine Arbeiten erhielt er so edle Auszeichnungen wie den Infinity Award des Internationalen Zentrums für Fotografie oder die Leica Medal of Excellence. The Victor Weeps enthält mit gut 160 Schwarzweißbildern eine der wenigen Bildsammlungen, die die westliche Welt von jenem Land hat, in dem sie seit Oktober Krieg führt: Afghanistan.Fazal Sheikh zeigt in seinem Buch ein Land, das in Auflösung begriffen ist, eine Welt im Verschwinden. Mittels feinkörnigem Fotopapier und langen Belichtungszeiten erzeugt er ästhetische Effekte, die die ohnehin gespenstischen Trümmer der afghanischen Hauptstadt Kabul in wahre Nicht-Orte verwandeln. Von den Ruinen am Rande der ehemaligen Boulevards bleiben so nur matte schwarz-graue Strukturen, die eher an mathematische Raster, denn an ein Gefühl von Behaust-Sein erinnern können. Man möchte diese Bilder festhalten, so fragil wurden sie durch Sheikhs Linse gezeichnet - wie Röntgenaufnahmen, kurz vor dem Durchbruch hinter die Oberfläche.Dabei erzeugt Sheikh mit diesen Techniken letztlich nur Spiegelbilder unserer Wahrnehmung: Das Land am Hindukusch, es wäre längst vergessen und durchs Raster der globalen Mediengesellschaft gefallen, tauchte es nicht immer wieder mal auf den Lieferscheinen westlicher wie östlicher Waffenexporteure auf. Zwischen dem Abzug der ehemaligen Sowjetarmee 1989 und dem 11. September 2001 war es in den Weltnachrichten allenfalls noch eine Fußnote wert. Seither aber wirken die Aufnahmen von den Trümmern Kabuls, die Sheikh seinem Buch vorangestellt hat, ungewollt wie die verschwommenen Negative von Ground Zero. Hier wie dort eine erschreckend ähnliche Zeichenstruktur, eine zusammengeschossene Semiotik. Doch wo die Trümmer des World Trade Centers medientechnisch zu beinahe hundert Prozent verwertet worden sind, da harren Sheikhs Bilder noch immer ihrer Dechiffrierung.Fazal Sheikhs eigentliches Augenmerk aber gilt dem menschlichen Gesicht. Aus den Flüchtlingslagern in Pakistan, aber auch aus den UNHCR-Zeltstädten in Afghanistan selbst hat er Porträtaufnahmen geliefert, die mehr freizulegen scheinen als eine oberflächliche Würde. Sheikhs Bilder wirken wie Suchscheinwerfer in einer globalen Umnachtung. Fast immer werden die Gesichter von einem direkten Spotlight beleuchtet, so dass Hintergründe allenfalls verschwommen, wenn nicht gar völlig schwarz bleiben. Wie Dorothea Lange oder Werner Bischof wird er so zu einem Vertreter humanistischer Fotografie. Denn auch wenn die fehlende Tiefenschärfe die Menschen stets aus allen Zusammenhängen reißt, so erzählen ihre Gesichter beinahe mehr als jeglicher Background.Da ist zum Beispiel Bibi Mah. Während der Aufnahmen erzählt sie dem Fotografen, wie ihr Sohn im Krieg mit den Sowjets in einer Hinterhalt gelockt und von russischen Soldaten gefoltert und getötet wurde. Bibi Mahs Gesicht ist durchgraben von tiefen Falten. Ihre Augen liegen irgendwo, schmal, zusammengekniffen - zu klein für die großen runden Augenhöhlen. Fazal Sheikh bringt ihr Antlitz zum Sprechen. Fast bräuchte es nicht der kleinen Texte, die Sheikh neben die Fotografien gestellt hat, um die Geschichten der Menschen zu erahnen. Das direkte Licht, in das er die Flüchtlinge gesetzt hat, wirft derart plastische Schatten, dass die Gesichter zu Landschaften werden, zu Kartografien des Inhumanen.Rohullah etwa hatte einen Cousin - er wurde von sowjetischen Soldaten bei lebendigem Leibe begraben. Rohullahs Gesicht wirkt heute derart eingefallen, als wäre es das eines Geistes, der nicht zur Ruhe findet. Aakila war das Kind glücklicher Eltern, bis zu dem Tag, an dem ihr Vater auf eine Anti-Personen-Mine trat. Heute ist er ein Krüppel, nicht mehr in der Lage, seine Familie zu ernähren. Aakilas Physiognomie wirkt kalt und entschlossen - zu steif für eine junge Frau ihres Alters. Für Fazal Sheikh reicht oftmals ein Blick, und vor dem Betrachter entfaltet sich die ganze Tragödie von über 20 Jahren Krieg und Bürgerkrieg. Sheikh ist nicht der Dokumentarist, der stundenlang auf den geeigneten Augenblick wartet. Im Gegenteil: in den Gesichtern mit den tiefen Falten und der oft bis zur Maske erstarrten Haut warten Hunderte von Augenblicken auf den Fotografen - er muss es nur verstehen, sie auszuleuchten.Mit dem übertriebenen Pathos konventioneller Spendensammelbildchen indes haben diese Porträts wenig zu tun. Sheikh geht es nicht um eine unreflektierte Herz-Jesu-Ästhetik, sondern um die Inthronisation jener Humanität, die mit dem Begriff Kollateralschaden aus der Optik der Kriege zu verschwinden hatte. Mit seinen Fotografien setzt er den Menschen erneut an jene Stelle, die in Afghanistan unlängst zur Leerstelle geworden ist. Denn unter der Herrschaft der Taleban hatten nicht nur die Buddhastatuen von Bamiyan zu verschwinden, sondern ebenso die Ikonografien alles Menschelnden überhaupt. In ihrer radikalen Interpretation der Scharia formten sie aus dem islamischen Bilderverbot eine generelle Ächtung des menschlichen Abbilds.In einem kleinen Text schildert Fazal Sheikh, wie er in Jalalabad auf ein von den Taleban geschlossenes Fotostudio stößt. Beim Eintritt erinnern nur noch die hellen Schatten an den Wänden an die Bilder, die einst dort gehangen haben müssen. Der Eigentümer, Ridzwanul Haq, erzählt, wie er mit seinen Fotografien den Menschen kleine Erinnerungsstücke an die Hand geben wollte, bis zu dem Tag, da den Herrschenden sein "Gedächtnisservice" zu unbequem wurde. Die Episode verrät viel über die Macht des Bildes generell. Die Binsenweisheit der Mediengesellschaft, dass, wer die Bilder beherrsche, auch die Menschen beherrscht, ist unlängst auch am Hindukusch angekommen.Sheikh gibt somit durch seine Porträts den Menschen ein Stück ihrer Autorität zurück. The Victor Weeps ist der gelungene Versuch, die weißen Flecken in Ridzwanul Haqs Fotostudio aus dem toten Winkel unserer durchkodierten Welt zu reißen. Denn in einem scheinen sich Taleban und Internationale Anti-Terror-Allianz aufs Verblüffendste einig zu sein: Nichts kann mehr Sprengstoff enthalten als das menschliche Gesicht. Ein anderer Fotograf, Sebastiao Salgado, brachte dies einmal auf eine kurze Formel: "Wer nicht sichtbar ist, existiert auch nicht."Als die Académie des Sciences 1839 die Erfindung der Fotografie dem französischen Volk schenkte, hatte sie vielleicht nur eine leise Ahnung davon, wie das neue Medium nicht nur die Kunst, sondern die Gesellschaft generell demokratisieren könnte. Wenn Fazal Sheikh am Ende seines Buches seine Bilder den Menschen in Afghanistan überlässt, mag darin eine ähnliche Hoffnung zum Ausdruck kommen: Fotografien können auch heute noch Einmischungen sein - missliebige Partizipationen an jeglicher Ikonografie von Macht.Fazal Sheikh: The Victor Weeps - Afghanistan. Scalo Verlag New York - Zürich 1998, 248 S., 159 s/w-Abbildungen, 88,- DM
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