Der Mutterwitz als Schmiermittel des Berliner Fernsehens

Medientagebuch In Zeiten von Hartz IV ist aus dem „Berliner Mutterwitz“ eine Melange aus Brutalität und Selbstqual geworden, in der Komik und Gewalt identisch sind

Der Berliner liebt seine Stadt wie Fiffi seinen Stammbaum. Auch im Fernsehen begegnet er am liebsten sich selbst. Wer seine Verbundenheit mit einer Gemeinschaft be­kunden will, sollte allerdings gut üben. Wenn die Rhetorik nicht hundert­prozentig sitzt, gilt man erst recht als Außenseiter. Renate Künast scheint dieses Schicksal erspart geblieben zu sein. Zwar wurde bemerkt, dass der Satz „Icke bin Berliner“, mit dem sie ihre Kandidatur für das Bürgermeisteramt flankierte, nicht ganz der Berliner Grammatik entspricht – dann müsste es nämlich „Ick“ heißen. Doch die Mischung aus Bodenständigkeit und Weitherzigkeit, die Künast ausstrahlt, hat den Lapsus vergessen lassen.

Dass die in Recklinghausen geborene Immigrantin trotz mangelnder Integrationsleistung von echten Berlinern als eine der Ihren angesehen wird, ­dürfte zwei Gründe haben. Zum einen stammen viele „echte Berliner“ ohnehin aus Westdeutschland – insbesondere in Kreuzberg, dessen linkes Milieu sich weitgehend aus zugezogenen ­Kindern von Freiburger, Hannoveraner oder Heidelberger Akademikern zusammensetzt. Zum anderen ist der „echte Berliner“ ein Kulturtypus, mit dessen Habitus das Sozialverhalten der Bevölkerung derart verschmolzen ist, dass sich zwischen Klischee und Wirklichkeit kaum unterscheiden lässt. ­Symptomatisch dafür ist die Berliner Abendschau des Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb). Nirgends ist der selbstbewusste Provinzialismus Berlins so zu Hause wie dort. Dass der Bildungsauftrag dem Fernsehen die Pflicht zur Information auferlegt, hatte ja schon immer eher symbolischen Wert. Die Wurstigkeit aber, mit der die Abendschau sich als Hauptstadt-Trailer inszeniert, erstaunt dann doch. Hier wird Woche für Woche Werbung für Berliner Einzelhändler gemacht, Reisetipps für das Umland stehen neben Porträts Berliner Originale, und über die Mai-Randale wird mit derselben guten Laune berichtet wie über die Fußball-WM. Es geht auch gar nicht um die Inhalte, sondern um den Gestus – jenen „janz besondren Duft“, der auf sensible Nasen wirkt wie die Currywurst auf den Feinschmeckergaumen.

Insofern ist es kein Zufall, dass eine einst beliebte Sendung des Berliner Regionalfernsehens, Drei Damen vom Grill, von drei Frauen erzählte, die eine Imbissbude betreiben. Ihre Vorabendkonkurrenten im ARD waren eine Arzt- und eine Anwaltserie, Praxis Bülowbogen und Liebling Kreuzberg. Mit Brigitte Mira und Brigitte Grothum als Imbiss-Damen, Günter Pfitzmann als Arzt und Manfred Krug als Anwalt boten sie durchweg Berliner Schauspieler auf. Der eigene Kiez erschien dabei als die ganze Welt: Die Grilldamen verteidigen ihren Standort gegen wurzellose Konkurrenten, während Pfitzmann seine Patienten vor der Apparatemedizin und Krug seine Klienten vor Miethaien retten muss. Zwar hat Krug Punks und Ökos bereits genauso gern vertreten wie deutsche Kleinbürger, im Ganzen aber hat sich das Profil bis in die Neunziger, als die Serien ausliefen, kaum verändert. Seine aktuelle Schwundstufe stellt Cindy aus Marzahn dar. Sie führt auf RTL vor, was in Zeiten von Hartz IV aus dem „Berliner Mutterwitz“ geworden ist, eine Melange aus Brutalität und Selbstqual, in der Komik und Gewalt identisch sind. Es war ja schon immer Rohheit, die Berlin-Fans am „Mutterwitz“ bewunderten: Während den Parisern ein Leben nie schön genug sein kann, schafft es der Berliner, noch in Armut und Enge seinen Spaß zu haben. Und die Akademiker­kinder aus der Provinz freuen sich, in der einzigen Metropole der Welt zu leben, die genauso funktioniert wie das heimische Kaff.

Magnus Klaue lebt in Berlin

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