Der Mythos von der Expertise

Bundesregierung Christian Lindner könnte Finanzminister werden. Aber warum nur? Dass der FDP-Chef als wirtschaftskompetent gilt, ist eine große Täuschung
Ausgabe 39/2021
Der Mythos von der Expertise

Foto: John MacDougall/AFP/Getty Images

Noch ist nicht klar, welche Parteien die nächste Bundesregierung stellen, geschweige denn, wer welches Ministerium herausverhandeln wird. Zwei Dinge allerdings sind wahrscheinlich: dass die FDP an die Macht zurückkehren wird. Und dass ihr Chef, Christian Lindner, es auf das Amt des Bundesfinanzministers abgesehen hat.

Bemerkenswert ist, dass Lindner – genau wie der CDU-Politiker Friedrich Merz – als „Finanzexperte“ gilt. Beide erwecken bei vielen den Eindruck, sie seien „kompetent“ und wirtschaftspolitische Ämter bei ihnen in guten Händen. Wir können jetzt schon geradeheraus sagen: Das Gegenteil ist der Fall. Die Frage ist eher: Mit welcher Begründung erfolgt die Zuschreibung von Finanzexpertise?

Es ist gewiss nicht notwendig, dass jeder Finanz- oder Wirtschaftspolitiker einen ökonomischen Abschluss vorweisen muss, um einen guten Job zu machen. Will heißen: Nur weil Lindner Politikwissenschaft studiert hat und Merz Jura, könnten sie trotzdem einen soliden Kenntnisstand volkswirtschaftlicher Zusammenhänge besitzen. Doch genau hier beginnt das Problem – sowohl bei Merz als auch bei Lindner.

Die vergangenen Wochen haben verdeutlicht, wie falsch die Annahme ist, beide Akteure verfügten über hohe Wirtschaftskompetenz. Sei es bei Talkshow-Auftritten, in denen Merz bei der simplen Frage nach der Entstehung von Wirtschaftswachstum ins Straucheln geriet, oder als er wild mit Begrifflichkeiten wie der Liquiditätsfalle um sich warf, ohne diese auch nur im Ansatz zu verstehen, sei es bei einer der zahlreichen Reden, in denen Lindner immer und immer wieder zeigte, dass er den Unterschied zwischen BWL und VWL nicht erfassen will oder kann. Dabei ist der Staat nun mal kein Unternehmen, ein Haushalt ist keine Firmenbilanz und Staatsanleihen sind nicht mit Privatkrediten vergleichbar. Warum hält sich der Mythos der Expertise trotzdem so standhaft?

Anscheinend gilt in Deutschland als in Dingen der Wirtschaft kompetent, wer eine möglichst ausgeprägte Nähe zu ebendieser hat. Denn wer sollte sich hier besser auskennen als jemand, der schon mal „in der freien Wirtschaft“ tätig war? Merz, der vier Jahre als Lobbyist und Aufsichtsrat für den Vermögensverwalter Blackrock tätig war, profitiert von dieser Annahme wie kein Zweiter. Dabei war es wohl weniger Merz’ Expertise als seine Verbindungen in die Politik, die ihm den Job verschafften. Christian Lindner kann man als Erfahrungswert zuguterechnen, dass er wenigstens mal ein Start-up in den Sand gesetzt hat.

Er moralisiert und banalisiert

Ansonsten scheint das Narrativ der schwarzen Null und der schwäbischen Hausfrau Politikern wie Merz und Lindner in die Karten zu spielen. Beide werden nicht müde, vor Staatsverschuldung zu warnen und bei einer progressiven Regierung bereits den nahenden Staatsbankrott am Horizont zu sehen. Tatsächlich ist auch das nicht auf ökonomische Expertise gestützt. Stattdessen werden Fragen der Fiskalpolitik moralisiert und banalisiert: Würden Sie etwa über Ihre Verhältnisse leben? Oder gar Ihre Schulden nicht zurückzahlen? Spätestens wenn Ihnen von Lindner oder Merz vorgeworfen wird, sich mit Schulden an der Zukunft Ihrer Kinder zu vergehen, ist das Ende einer sachlichen Debatte nah.

Diese Reaktion ist intuitiv verständlich, mit rationaler makroökonomischer Analyse hat sie jedoch nichts zu tun. Vielleicht sollte man noch hinzufügen, dass auch die Medien in Bezug auf die scheinbare Expertise von Lindner oder Merz versagen. Wirtschaftsliberales Framing wird oft vorgegeben, jeder Politiker, der für progressive Finanzpolitik wirbt, muss zunächst einmal diesen Rückstand aufholen. Wenn Journalisten bereits in ihren Fragen die Bewertungen ökonomischer Begriffe vornehmen, indem sie beispielsweise von Schulden als Belastung sprechen, dann hat die Lindner’sche Position schon halb gewonnen.

Mit Blick auf die kommenden Herausforderungen ist es fatal, Politikern wie Merz und Lindner wirtschaftspolitische Expertise anzudichten und ihre Ausführungen unwidersprochen im Raum stehen zu lassen. Um sie zu entlarven, benötigt es allerdings wirtschaftspolitischen Sachverstand aufseiten progressiver Akteure. Ohne diesen geht es nicht.

Dana Moriße, Historikerin und Ökonomin, war finanzpolitische Sprecherin der Linken in Nordrhein-Westfalen

der Freitag digital zum Vorteilspreis

6 Monate mit 25% Rabatt lesen

Geschrieben von

Der Freitag im Oster-Abo Schenken Sie mutigen Qualitätsjournalismus!

Print

Entdecken Sie unsere Osterangebote für die Printzeitung mit Wunschprämie.

Jetzt sichern

Digital

Schenken Sie einen unserer Geschenkgutscheine für ein Digital-Abo.

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden