Der Nebel von Kundus

Dieter Wiefelspütz Untersuchungsausschüsse werden immer mehr zum politischen Theater – zu Lasten der Aufklärung, meint unser Autor

I. In Untersuchungsausschüssen wurde und wird Politik gemacht. Karrieren werden befördert, aber auch abrupt beendet. Der Spielbankenausschuss des bayerischen Landtags in den frühen Jahren des Freistaates Bayern, die Untersuchungsausschüsse des Bundestags zu den Fibag-, Flick-, Neue-Heimat- und Parteispenden-Affären stehen für spektakuläre parlamentarische Untersuchungen, in denen Zeit- und Parlamentsgeschichte geschrieben wurde. Es gibt aber auch eine Reihe von Untersuchungsausschüssen, an die sich zu Recht niemand mehr erinnert. Manche parlamentarische Untersuchungen mögen sogar überflüssig gewesen sein.

Art. 44 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz (GG) gibt dem Bundestag das Recht, Untersuchungsausschüsse einzusetzen. Damit erhält das Parlament die Möglichkeit, sich ohne Mitwirkung von Regierung und Verwaltung über Angelegenheiten zu informieren, deren Kenntnis es zur Erfüllung seiner Aufgaben für erforderlich hält. Die Landesverfassungen enthalten entsprechende Regelungen für die Parlamente der Länder.

Untersuchungsverfahren haben in der parlamentarischen Demokratie eine wichtige Aufgabe zu erfüllen. Die Untersuchungsausschüsse sollen das Parlament bei seiner Arbeit unterstützen und seine Entscheidungen vorbereiten. Das Schwergewicht der Untersuchungen liegt naturgemäß in der parlamentarischen Kontrolle von Regierung und Verwaltung, insbesondere in der Aufklärung von in den Verantwortungsbereich der Regierung fallenden Vorgängen, die auf Missstände hinweisen. Gerade solcher Kontrolle kommt im Rahmen der Gewaltenteilung besonderes Gewicht zu.

War das Untersuchungsrecht im System der konstitutionellen Monarchie noch in erster Linie ein Instrument des gewählten Parlaments gegen die monarchische Exekutive, so hat es sich unter den Bedingungen des parlamentarischen Regierungssystems maßgeblich zu ­einem Recht der Opposition auf eine Sachverhaltsaufklärung unabhängig von der Regierung und der sie tragenden Parlaments­mehr­heit entwickelt. Das Grundgesetz hat deshalb dem Bundestag nicht nur das Recht eingeräumt, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen, sondern dies auch zur Pflicht gemacht, wenn ein Viertel der Abgeordneten es beantragt. Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG ist als minderheitsschützende Vorschrift angelegt.

Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG ermächtigt den Untersuchungsausschuss, die erforderlichen Beweise selbst zu erheben. Darin ist insbesondere das Recht eingeschlossen, die Vorlage von Akten zu verlangen und Zeugen zu vernehmen. Zur Beweiserhebung verweist Art. 44 Abs. 2 Satz 1 GG auf die Vorschriften über den Strafprozess; sie finden jedoch nur „sinngemäße“ Anwendung.

Eine gesetzliche Konkretisierung des Art. 44 GG blieb lange aus. Der Bundestag beschloss erst 2001 einstimmig (!) das Gesetz zur Regelung des Rechts der Bundestags-Untersuchungsausschüsse. Seit dem 26. Juni 2001 ist es in Kraft. Das Gesetz ist einer glücklichen politischen Konstellation im Bundestag, dem besonderen Engagement einiger Mitglieder des Parlaments und dem (rechts-)politischen Augenmaß der Initiatoren ge­schuldet, die das Rad nicht neu erfinden wollten, dafür aber ein Gesetz zustande brachten, das von Generationen von Politikern, Wissenschaftlern und Publizisten immer wieder vergeblich angemahnt worden war.

II. Der parlamentarische Untersuchungsausschuss ist ein Ort der politischen Auseinandersetzung, aber auch der Untersuchung und Klärung eines Sachverhalts im staatlichen, halbstaatlichen, ja sogar im privaten Bereich.

Der Untersuchungsausschuss wird freilich in besonderer Weise durch die sinngemäße Anwendung der Vorschriften über den Strafprozess auf die Beweiserhebung des Untersuchungsausschusses (Art. 44 Abs. 2 Satz 1 GG) geprägt. Die politische Auseinandersetzung in einem Ausschuss des Parlaments trifft auf Regeln, die sonst nur in einem strafgerichtlichen Verfahren gelten. Die wechselseitige Durchdringung von strikt getrennten und an sich unvereinbaren Sphären kennzeichnet den Untersuchungsausschuss, löst ein besonderes Spannungsverhältnis aus und macht ihn zu einer unverwechselbaren Einrichtung.

Im Zentrum eines jeden Untersuchungsausschusses steht die Beweisaufnahme. Sie bedeutet regelmäßig die Anforderung von Regierungsakten, aber auch die Vernehmung von Zeugen. Insbesondere die Vernehmung von prominenten Zeugen kann die besondere Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit hervorrufen.

Die parlamentarische Untersuchung ist eine genuin politische und damit auch parteiische Veranstaltung, in deren Mittelpunkt die politisch-parlamentarische Auseinandersetzung, der politische Kampf, steht, was von einer idealisierenden, parlamentsfernen Betrachtungsweise häufig verkannt wurde und wird. Allerdings hat der Untersuchungsausschuss stets auch die gemeinwohlorientierte Aufgabe, einen Sachverhalt aufzuklären und damit Tatsachen zu erforschen. In einer aktuellen Entscheidung zum Recht der parlamentarischen Untersuchung charakterisiert das Bundesverfassungsgericht das Untersuchungsverfahren zutreffend als „Aufklärungsinstrument im Rahmen der politischen Kontroverse“. Das Spannungsverhältnis „zwischen Aufklärung und politischem Kampf“, zwischen „einerseits der politischen Auseinandersetzung und andererseits der Wahrheitsfindung“ ist der parlamentarischen Untersuchung immanent und nicht auflösbar. Die parlamentarische Praxis belegt, dass inzwischen der Funktionsschwerpunkt des Untersuchungsausschusses auf der politischen Auseinandersetzung liegt.

III. Der parlamentarische Untersuchungsausschuss wird häufig das „schärfste Schwert“ des Parlaments genannt. Das ist eher eine Übertreibung. Ein kraft Verfassung so mächtiges Parlament wie der Deutsche Bundestag hat eine Vielzahl von Möglichkeiten der wirksamen Kontrolle der Bundesregierung und der weitreichenden Gestaltung von Politik. Aber auch in einer stabilen und funktionierenden Demokratie ist der Untersuchungsausschuss ein unverzichtbares Instrument des Parlaments.

Glanz und Elend des parlamentarischen Untersuchungsausschusses hängen freilich entscheidend von der Qualität der Abgeordneten ab, die mit diesem Instrument umgehen. Deren Qualität ist freilich sehr gemischt.

IV. Der aktuelle Kundus-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages verdeutlicht eine sehr typische Problematik parlamentarischer Untersuchungsausschüsse: Nicht der ursprüngliche Anlass für den Untersuchungsausschuss, die humanitäre Katastrophe, der Tod von mehr als 100 Menschen am 4. September 2009 in Kundus durch einen Bombenabwurf, befohlen von einem deutschen Soldaten, steht im Mittelpunkt der Untersuchung. Entscheidend ist vielmehr die spätere Einschätzung dieses so folgenreichen Militärschlags durch den Verteidigungsminister zu Guttenberg, obwohl er am 4. September 2009 noch gar nicht der verantwortliche Verteidigungsminister war.

Nicht selten ist es weniger der Skandal, sondern der Umgang mit der Fehlleistung, der politische Akteure in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss in Schwierigkeiten bringt. Sekundärphänomene wie nachträgliche Vertuschungsmanöver, Ablenkung und Lüge überlagern den ursprünglichen Grund für den Untersuchungsausschuss. Nicht der Skandal, sondern der Umgang mit dem Skandal beherrscht viele Untersuchungsausschüsse.

V. Dies leitet über zur Dramaturgie eines Untersuchungsausschusses. Ja, der Untersuchungsausschuss ist auch Theater. Damit wird das Parlament nicht verächtlich gemacht. Denn das Parlament ist immer auch Theater gewesen und wird es auch bleiben. Seit das Fernsehen Einzug in Untersuchungsausschüsse gefunden hat, haben sich die theatralischen Elemente eher verstärkt. Man mag das beklagen, aber es geht auch in einer demokratisch-politischen Auseinandersetzung nie nur um die Sache. Die Performance ist wichtig, die Farbe der Krawatte, der modische Anzug, das Kostüm. Kurz: der Auftritt macht es. Das gilt für die Abgeordneten, die als Mitglieder des Untersuchungsausschusses agieren und noch mehr für die Zeugen, die im Untersuchungsausschuss von den Abgeordneten befragt werden.

Zur Dramaturgie gehört der Zeitpunkt des Auftritts. Timing hat Bedeutung. Deshalb wird im Untersuchungsausschuss gern und ausgiebig darüber gestritten, wann ein wichtiger Zeuge vernommen wird.

VI. Untersuchungsausschüsse sollten nicht überschätzt werden. Sie sind manchmal unendlich langweilig. Nicht selten wird lediglich Stroh gedroschen. Unterschätzen darf man Untersuchungsausschüsse freilich nie. Erfahrene Beobachter meinen, es komme bei einem Untersuchungsausschuss immer etwas heraus, was ohne den Untersuchungsausschuss einer breiteren Öffentlichkeit nicht bekannt geworden wäre. Im Zeugenstuhl eines Untersuchungsausschusses zu sitzen, ist selbst mit einem reinen Gewissen eine große Belastung. Auch erfahrene Politprofis geraten dabei ins Schwitzen.


VII. Ich weiß nicht, ob Verteidigungsminister zu Guttenberg ein reines Gewissen hat. Er lässt sich bislang nichts anmerken. Ich bin mir freilich ganz sicher: Minister zu Guttenberg weiß sehr genau, dass von seinem Auftritt im Kundus-Untersuchungs­aus­schuss abhängt, ob und wie er als Verteidigungsminister politisch überlebt.

Dieter Wiefelspütz ist innenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion und Mitglied des Innenausschusses. Der Jurist Wiefelspütz promovierte über das Thema Das Untersuchungsausschussgesetz

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