Der literarische Vater Wladimir Kaminers wurde in Deutschland kaum übersetzt und so gut wie nicht gelesen. Sergej Dowlatow emigrierte Ende der siebziger Jahre aus St. Petersburg in die USA, war aber kein politischer Dissident, sondern ein literarischer Outsider, für den die Wörter "sowjetisch" und "antisowjetisch" fast dasselbe bedeuteten. Dem tragischen Ernst des traditionellen russischen Weltbildes stellte Dowlatow die Ironie seiner Anekdoten über Verwandte und Nachbarn entgegen, der ewigen Sucht nach globaler Form die virtuose Sparsamkeit seiner Erzählungen. Genau diese Leichtigkeit im Umgang mit der Realität und die Eleganz der literarischen Geste übernahm Kaminer - und zwar mehr als jeder andere heute russisch schreibende Autor. Auf diese Weise kam
ise kam es zu dem seltenen Phänomen, dass eine literarische Tradition in eine andere Sprache wechselte: Denn Kaminer hat es geschafft, sich in die deutsche Literatur so einzunisten, dass man ihn, als das Goethe-Institut St. Petersburg ihn zu Lesungen in seine Heimatstadt einlud, doch tatsächlich fragte, ob er auch russisch spreche. Damit hat Kaminer erreicht, wovon Dowlatow nur träumen konnte - mit Ausnahme einiger weniger Erzählungen, die für den New Yorker übersetzt wurden, sind seine zwölf Bücher im Westen alle nur auf russisch erschienen. Erst in den Jahren der Perestrojka kehrten sie nach Russland zurück und wurden dort Kult. Ein Kritiker schrieb damals, seine Leser liebten Dowlatow genauso wie die begehrten 10-Rubel-Scheine, - ein Vergleich, der mit der notwendigen Währungskorrektur auch auf Kaminer völlig zutrifft. Ohne den Gipfel seines Erfolgs noch erlebt zu haben, starb Dowlatow 1990 in New York; in Russland betrachtet man ihn heute als einen der wichtigsten Autoren der Nachkriegszeit. Der "Kaminer-Rummel" (Reich-Ranicki) ist aber nicht nur als ein rein literarischer Erfolg zu verstehen. Wladimir Kaminer breitet sich in den deutschen Medien mit der Geschwindigkeit eines Computervirus aus. Seit der Russendisko im Jahr 2000 sind bereits drei weitere Bücher auf den Markt gekommen. Kaminers publizistische Bandbreite reicht grenzüberschreitend von taz bis FAZ, von Spiegel bis Focus. Buch- und Zeitungsmarkt sind ihm darüber hinaus längst zu eng geworden: Kaminer ist Stammgast bei Harald Schmidt, moderiert eine eigene Show im ZDF-Frühstücksfernsehen, hat sein erstes Drehbuch geschrieben und lässt sich als Model in Designer-Anzügen fotografieren. Einige Leser, die ihn mit seinen taz-Geschichten lieben lernten, haben ihn inzwischen satt, weil der Geheimtip zum Popstar mutiert ist. Das alles hat jedoch seine ganz eigenen Ursachen und Wirkungen. Kaminers Schreib- und Mediensucht ist von ähnlicher Natur wie die haltlose Energie der berüchtigten Neuen Russen, der wilden Paten des neuen russischen Kapitalismus. Aufgewachsen in grässlichen sowjetischen Plattenbauten, holen sie nun alles nach - ihre Konzerne lassen den Größenwahn des verlorenen Reichs wiedererstehen, ihre Lebensfreude kennt keine Hemmungen. Kaminer begann erst vor 11 Jahren deutsch zu lernen. Seine Lust, deutsch zu sprechen und zu schreiben, kann niemand besser nachvollziehen als ein Emigrant, ein Sprachbehinderter, der sich mühsam auszudrücken versucht. Mit dem "Kaminer-Rummel" meldet sich die russischsprachige Minderheit in Deutschland zu Wort, um die Stotterkomplexe in der Fremde zu überwinden. Aber wie es im Kapitalismus so ist, nicht das Angebot, sondern die Nachfrage bestimmt den Markt. Hinter dem Phänomen Kaminer steht nicht nur das Bedürfnis der in Deutschland lebenden Russen sich auszusprechen, sondern das nicht zuletzt auch von Angst geprägte Interesse der Deutschen für die neuen Nachbarn, deren Zahl inzwischen - inklusive Spätaussiedler, jüdischer "Kontingentflüchtlinge", russischer Bräute und illegaler Abenteurer - auf fast drei Millionen geschätzt wird. Kaminer hat es nun innerhalb von drei Jahren geschafft, der Oberrusse Berlins und vielleicht sogar ganz Deutschlands zu werden. Das bedeutet nicht nur, dass er als höchste Instanz der Russlandkunde fungiert, ganz gleich ob es um Putin, Dostojewski oder russische Frauen geht. Der wichtigere Auftrag der deutschen Medien an Kaminer besteht darin, die Rolle des guten Russen zu spielen. Der gute Russe stellt die Alternative zu den bösen Russen dar. Vor Kaminer hatte der Schriftsteller Lew Kopelew diese zwiespältige Rolle inne - und verkörperte sie mit großem Erfolg. Nach dessen Tod im Jahre 1997 war der Part für einige Zeit unbesetzt. Kopelews Aufgabe in der Öffentlichkeit bestand vor allem darin, zu jeder passenden Gelegenheit den Allgemeinplätzen des Mythos Russische Seele ernst und schwerwiegend seine Stimme zu leihen. Von Mitte der dreißiger an bis zum Ende der achtziger Jahre unterhielt zumindest Westdeutschland kaum direkte Kontakte zu Russen und bewahrte deshalb relativ starr diesen kulturellen Mythos, der mit der sowjetischen Realität kaum noch etwas zu tun hatte. Kein anderer war geeigneter, diesen Mythos zu verkörpern als der bärtige Prophet Lew Kopelew, ein vormals überzeugter Kommunist, der dann zum "Knastbruder" von Solschenizyn wurde, im Zweiten Weltkrieg als Major der Aufklärung deutschen Kriegsgefangenen Vorträge über Hölderlin gehalten hatte und nach der Emigration das Deutschlandbild in der russischen und das Russlandbild in der deutschen Literatur in zehn Bänden nachzuzeichnen versuchte. Kopelew wurde ausgebürgert und fand in Deutschland politisches Asyl. Kaminer reiste 1990 aus reinem Spaß nach Ostberlin. Kopelew genoss von Anfang an den Respekt der Intellektuellen; Kaminer durchlief die echten Emigrantenstationen: Ausländerheim in Marzahn, Russen-WG, Zeitungsverkäufer ... Kopelews Projekt finanzierte die Gesamthochschule Wuppertal, Kaminer musste sich etwas einfallen lassen, um Geld zu verdienen, bevor er auf die glückliche Idee kam, das "Wilde Tanzen am Jahrestag der großen Oktober-Revolution" zu organisieren. Was die beiden verbindet: Sie spiegeln perfekt ihre Zeit wieder. Wie ein guter Russe in den deutschen Medien aussehen darf, hängt nämlich davon ab, wie die bösen Russen gerade aussehen. Zur Kopelew-Zeit war es die Breshnew-Sowjetunion, die als Negativ-Folie herhalten musste. Heute ist Kaminer der Gegenpol zum Lieblingsfeind des Tatort-Fernsehens: der russischen Mafia. Beide Feindbilder sind Phantome der Medien, unterscheiden sich jedoch gewaltig voneinander. Handelte es sich vorher um eine globale, aber ferne Gefahr, so hat man es heutzutage mit einer vermeintlichen Gefahr in der eigenen Nachbarschaft zu tun. Dementsprechend muss auch das Gute anders aussehen. Nicht mehr die erhabene Epik à la J.R.R.Tolkien, die bärtige Russische Seele, die gegen das Reich des Bösen auftritt, ist gewünscht, sondern der nette, gut aussehende Kerl mit ironischem Lächeln, der in jedem Interview nach der russischen Mafia gefragt wird und die Bundesbürger jedes Mal mit einem Witz beruhigt - es gäbe keine. Auffällig ist dabei, dass es immer noch ein Schriftsteller ist, der den guten Russen verkörpert, und nicht etwa ein erfolgreicher Reiseunternehmer oder ein grüner Politiker wie im Falle der Türken. Dafür ist der Mythos der "Russischen Seele" einfach noch zu lebendig. Mit den Ukrainern zum Beispiel ist es schon anders. Zum Symbol ihrer Nation stiegen hier die hoch gewachsenen Klitschko-Brüder auf - letztlich hat die Bundesrepublik erst durch sie erfahren, dass es so etwas wie die Ukraine überhaupt gibt. Aber selbst Vitali Klitschko benötigt seine(n) "Faust" im Ring, um seiner Mission gerecht werden zu können. Der Unterschied zwischen dem Schriftsteller Kopelew und dem Schriftsteller Kaminer hat allerdings eine historische Dimension. Kopelew war der Oberrusse der Bonner Republik vor der Wende, Kaminer ist der Oberrusse der wiedervereinigten, von der Politik enttäuschten, auf den großen Kick stehenden Berliner Republik. Das Spielfeld von Wladimir Kaminer in den deutschen Medien liegt nun irgendwo zwischen Kopelew und den Klitschkos. Das heißt: auf die Fragen, die man früher Kopelew stellte, soll Kaminer nun mit der Präzision und der Schlagkraft eines Boxstars reagieren. Zum Beispiel bei einer Talkshow im WDR - die Frage lautet: Was verbindet Russen und Deutsche? Statt in zehn Bänden antwortet er mit einem Wort: Saufen. Kopelews Platz im deutschen Medienuniversum war bei dem Begräbnis von Petra Kelly und Gert Bastian. Kaminers Platz ist vor dem Käfig des neugeborenen Elefantenbabys im Berliner Zoo. Es ist nicht so, dass Kaminer sich nicht für politische oder historische Themen interessieren würde, ganz im Gegenteil. Er spricht über solche Themen gern und mit der selben Leichtigkeit, mit der die Cessna von Matthias Rust auf dem Roten Platz landete. Sein Hitler unterhielt sich auf einer Seepromenade mit Künstlern ("Adi, ich habe hier ein bisschen was gemalt, du hast doch Ahnung"), sein Karl Marx und sein Friedrich Engels sind Penner auf der Schönhauser Allee, die auf die "Deutsche Ideologie" anstoßen. In einer seiner Erzählungen begegnet Kaminer einer Pythonschlange, die in einem Kaufhaus das Publikum unterhält. Die Schlange hat ein Auge geschlossen und wirkt müde, was beim Autor eine gewisse Solidarität weckt: "Meine liebe Schlange, dachte ich, in der Zeit der totalen Unterhaltung haben wir es nicht leicht. Die bittere Erfahrung, dass man das Leben nicht noch besser machen kann als es ist, hat die Menschheit in eine ziemliche Sackgasse gebracht. Nur die totale Unterhaltung zeigt den Weg raus - man kann es nicht schöner machen, aber dafür spannender, bunter und lauter. Unterhaltsamer eben: Das ganze Leben in eine Talkshow verwandeln - nur auf diese Weise kann man die Reste von Menschlichkeit und den guten Willen zur allgemeinen Verbesserung der Lage aufrechterhalten."
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.