Der Norden und seine Projektionen

Mehr Süden wagen Ein Ex-Premier sitzt im Auto voller Hundehaare – und dient den Gegnern von Portugals Linksregierung, um Regierungschef António Costa anzugreifen
Ausgabe 35/2017
Von 2005 bis 2011 hat José Sócrates (links) regiert, heute steht er mit einem Fuß im Gefängnis
Von 2005 bis 2011 hat José Sócrates (links) regiert, heute steht er mit einem Fuß im Gefängnis

Foto: Patricia de Melo Moreira/Getty Images/AFP

Eines sei in Portugal typisch, erzähle ich meinem Gast, einem Drehbuchautor aus Deutschland: Hier kennen sich irgendwie alle. Da läuft ein älterer Herr mit nach hinten gekämmten Haaren Lissabons Rua Dom Pedro V. hinunter und lächelt in unsere Richtung. „Bom dia, Doutor Santana Lopes.“ Der ehemalige Premierminister fängt sogleich an, Deutsch mit uns zu reden. Er habe eine Zeit lang in Freiburg studiert. Heute ist er Vorsitzender des finanzstarken hiesigen Lotteriemonopolisten.

Nicht alle ehemaligen Premierminister Portugals finden ein goldenes Regal wie Lopes oder José Manuel Barroso, der über die EU-Kommission zu Goldman Sachs gewechselt ist. Von 2005 bis 2011 hat José Sócrates regiert, heute steht er mit einem Fuß im Gefängnis. Diesen Sommer bat Sócrates einige in Lissabon tätige Auslandskorrespondenten zum Treffen, um sich zu empören: Die portugiesische Justiz verfolge ihn. Ein Ermittlungsverfahren läuft seit vielen Jahren, er soll zig Millionen von Unternehmen und Banken illegal einkassiert haben, vor laufenden Kameras wurde er am Flughafen in Lissabon festgenommen, drei Tage lang verhört, saß dann ein Jahr in Untersuchungshaft. Auf eine Anklage, um sich verteidigen zu können, wartet er vergeblich.

Nimmt man einem Machtmenschen die Macht, bleibt das übrig, was nach dem Treffen im Auto neben mir sitzt – Sócrates hat seines nicht dabei, ich nehme ihn mit. Sein feiner Zwirn ist gerade erst in den Beifahrersitz und damit in all die Haare meines portugiesischen Wasserhundes gesunken, da schlägt er schon mit den Händen auf das Handschuhfach und redet sich in Rage. „Es ist infam!“, schreit er, schimpft auf Staatsanwälte und Richter, weil die ihn politisch in Schach hielten. Bei diesem ungebremsten Temperament ist es kein Wunder, dass Portugals Pendant zur Bild-Zeitung, die Correio da Manhã, regelmäßig Ausschnitte von belauschten Gesprächen Sócrates’ veröffentlicht, ebenso Details über sein früheres Luxusleben in Paris und dubiose Verwicklungen aller Art.

Sócrates war mal ein sozialdemokratischer Hoffnungsträger, endete aber wie seine Vorgänger: Cavaco Silva fungierte als Politik-Pate einer kriminellen Bande, die teure Bankpleiten verursachte. Der heutige UN-Generalsekretär António Guterres warf das Handtuch, weil Portugal „ein Sumpf“ sei. Barroso verließ das Land mitten in seiner Amtszeit. Santana Lopes regierte so chaotisch, dass der Präsident Neuwahlen ausrief.

Mit António Costa wird sicher alles besser, hofften viele nach Antritt seiner sozialistischen Minderheitsregierung Ende 2015. Die ließ tatsächlich Taten folgen und erhöhte Rente, Mindestlohn wie Steuern auf Immobilien-Vermögen. Daher projizieren Linke im Norden Europas nun einmal mehr ihre Hoffnungen auf den Süden: Portugal widerlege die Lüge von der alternativlosen Austerität, schwärmt der Guardian.

Dumm nur, dass sich hier der Wind gerade dreht: Rechte der Regierungspartei und der Staatspräsident wollen einen Pakt mit Berlins besten Freunden, den Liberalkonservativen. Eine Kritik, um Costa unter Druck zu setzen, lautet übrigens: Der sei doch genauso gewieft wie José Socrates.

Mehr Süden wagen ist der Titel dieser im August 2017 gestarteten Kolumne – und das Zitat eines Buches des Journalisten Sebastian Schoepp, der darin fragt, „wie wir Europäer wieder zueinander finden“, was der Norden vom Süden lernen kann und antritt gegen „die gedankliche Abtrennung eines vermeintlich rückständigen von einem prosperierenden Teil des Kontinents“. Das nimmt sich der Freitag zum Vorsatz, um abseits regelmäßig hochkochender Euro-Krisen-Aufregung Geschichten aus Wirtschaft und Politik Südeuropas zu erzählen

Miguel Szymanski ist in Portugal und Deutschland aufgewachsen. Er arbeitet als Journalist in Lissabon

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