Der Panzer bricht auf

Buch Martin Simons erzählt davon, wie eine plötzliche Krankheit alles verändert
Ausgabe 36/2019

„In meiner Jugend war ich ein guter Tischtennisspieler gewesen.“ Ziemlich zu Anfang dieses betörenden Textes setzt dieser Satz einen Ton wie ein Echo auf Marcel Proust. Martin Simons gestaltet einen vielstimmigen Klangkörper in dem scheinbar mühelos Erinnerung, Gegenwart, Beobachtung und Bewusstseinsstrom einander beeinflussen, abwechseln, überlagern und wo zwischen all diesen Stilmitteln trotzdem genug Raum entsteht, den eigenen, von diesem Schreiben ausgelösten Stimmungen nachzuspüren.

Dabei ist der Anlass dieses Buches an Gewicht nicht zu überbieten. Es geht um nicht weniger als die Frage, ob der Autor nun die letzten Dinge ordnen muss oder ob er als frischgebackener Vater weiter ein lebendiger Teil seiner kleinen Familie bleiben wird. Simons ist 2017, kurz vor Weihnachten, wegen eines Blutgerinnsels an einer komplizierten Stelle im Gehirn ins Krankenhaus eingeliefert worden, wo er die nächsten Tage in absoluter Ruhe verbringen musste, um ein erneutes Gerinnsel zu verhindern. Überlebenschance: 50 Prozent. CT, Magnetresonanz-Untersuchungen und Angiografie ergaben nicht eindeutig, ob eine „Raumforderung“, ein Tumor oder Aneurysma das Platzen der Ader zur Folge hatte. Nach einigen Tagen des Bangens konnte auf eine Operation, die mit Sicherheit bleibende Schäden hinterlassen hätte, verzichtet werden. Simons wurde noch vor Silvester wieder nach Hause entlassen. Allerdings in seinen Grundfesten erschüttert und verändert.

Was wohl Eckart von Hirschhausen oder Barbara Schöneberger aus diesem Stoff für Bestseller-Schmonzetten gezimmert hätten? Das Leben davor, gefeiert, beliebt, dann „Peng“, der Schock, dann mit viel Willen und Kraftanstrengungen aus der Krise gestärkt heraus – weil man ja immer gestärkt aus allem hervorgehen muss. Am Schluss: ein forsches „Weiter-so“.

Simons geht einen ganz anderen Weg. Bereits am Anfang schafft er maximale Nähe und lässt uns dann im Folgenden immer tiefer an seinen emotionalen und intellektuellen Wechselbädern teilhaben. Dabei entfaltet der Text, trotz der existenziellen Erschütterung angemessenen Schwere, eine geradezu zarte Wucht. Jede emotionale Färbung wird ausgeleuchtet, jedem Gedanken nachgespürt – und dabei schildert er wie nebenbei, mit wenigen Tupfern, sowohl die Abläufe im maroden Gesundheitssystem als auch die Beschwerden und die Einsamkeit seiner Leidensgenossen. Das Weltgetriebe kommt auch in den Krankenzimmern nicht zum Erliegen. Nur Simons selber, und wir mit ihm, wirkt zusehends entrückter, schafft mit seiner Introspektion einen geschützten Raum, der es erst ermöglicht, das Klopfen an der Himmelspforte zum Akt der Selbsterkenntnis werden zu lassen.

Je mehr sich der Text öffnet, der Leserschaft zuwendet, wird seinem Autor die eigene, vermeintliche oder tatsächliche, Verpanzerung bewusst, die dann wie eine Epiphanie auf bestürzend naheliegende Art aufbricht. Das geschieht mit großer sprachlicher Präzision, wobei gerade die vordergründig schmucklose Sprache den Gedankenreichtum und das immer tiefere Schürfen umso heller aufscheinen lässt.

Wer schon einmal von einer schweren Krankheit aus dem Alltag gerissen wurde, hat damit auch die damit einhergehende Entfremdung von der Welt miterlebt, findet mitunter nach der Gesundung nur mit einigem Zögern wieder zur alltäglichen Lebensbewältigung zurück. Simons’ Text teilt mit uns diesen Blickwinkel, der die vermeintlich so wichtigen Dinge des Alltags in weite Ferne rückt. So gesehen gelingt ihm damit ein geradezu subversiver Angriff auf den Verwertungs- und Konsumismus-Mahlstrom, dem das heutige Individuum ausgesetzt ist. Angesichts des unaufgeregten, kühlen Blicks in die Grube wirken all die Tools, Skills und Gadgets, die der moderne Mensch so zum Überleben zu brauchen scheint, obsolet und hilflos.

Info

Jetzt noch nicht, aber irgendwann schon Martin Simons Aufbau 2019, 186 S., 20 €

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