Der Papagei in der Tiefkühltruhe

ALLTAG Der einsame Kampf eines Stuttgarter Multimillionärs gegen die größten wildlebenden Tropenvögel Europas

Zwei Jahre lang lag das Opfer in der Tiefkühltruhe. Bei 16 Grad minus, neben den Eiswürfeln für den Champus. Als vier Kriminalpolizisten das Haus betraten, um nach dem corpus delicti zu fahnden, leistete Hans Herzinger, 70, keinen Widerstand und verriet sofort, wo die Leiche liegt. Dann übergab er den Beamten seine Waffe. Bald darauf stand er vor Gericht.

Vier Jahre zuvor: Alles fängt harmlos an. "Heiligsnei, was isch des?" murmelt Herzinger, als ihn in seinem Garten eine Nuss trifft. Er blickt sich um, bemerkt abgerissene Zweige auf dem Boden, schaut ins Laubdach und entdeckt plötzlich vier grüne, 30 Zentimeter große Papageien mit gelben Köpfen, die über ihm Zweige kappen und Walnüsse pflücken. Herzinger hat schon graues Haar, einen Vollbart und einiges gesehen in seinem Leben, aber darüber wundert er sich doch.

Kurz nach diesem ersten Besuch kehren die Papageien täglich in seine Nussbäume ein. Herzinger schimpft: "Ein Mordsgschrei und eine Sauerei machen die." Von Bekannten erfährt er, dass die Tiere zu einem Schwarm von 40 wildlebenden Gelbkopfamazonen gehören, die sich seit 15 Jahren in Stuttgart durchschlagen, sommers wie winters. Die größten wildlebenden Tropenvögel in Europa.

Herzinger ist das egal, die dreisten Fremdkörper in seinem Garten ärgern ihn. Er versucht sie zu verjagen, klatscht und schreit, es hilft nichts. Sein Zorn wächst, die Stadt unternimmt nichts, um ihn von der Papageienplage zu befreien. Da keimt im Herzen des braven Bürgers Herzinger zum ersten Mal ein Mordgedanke.

Das Fernglas vor Augen sucht Michael Schmolz die Wipfel ab. Er horcht, duckt sich, schaut tief in den Park hinein. Mit seinem vorspringenden Kinn und der Hakennase erinnert er an einen Habicht - einer der wenigen natürlichen Feinde der Stuttgarter Papageien. Doch Michael Schmolz studiert Biologie, ist Vorsitzender des Stuttgarter Naturschutzbundes und alles andere als ein Feind dieser exotischen Spezies im Schwabenland, die er regelmäßig beobachtet, um ihnen ein Kapitel seines Buches über Stuttgarts Vogelwelt zu widmen. Er schiebt sein Fahrrad einen Hügel hinauf, zum Park am Naturkundemuseum. Dort, in einem rund fünf Quadratkilometer großen Gebiet zu beiden Seiten des Neckars, treiben sich die Papageien am häufigsten herum. Heute lässt sich aber keiner sehen und hören. Nur ein Kind, das irgendwo schreit. Vielleicht doch ein Papagei? Die nämlich haben inzwischen gelernt, Kinderschreie nachzuahmen.

Seit sechs Jahren hält Schmolz die Fressgewohnheiten der exotischen Vögel in seinem Notizblock fest. Ergebnis: Obwohl sie sich in ihrer Heimat Mexiko normalerweise nach einer sehr speziellen Diät richten aus Mango, grünen Bananen, Avokado, Limonen, Feigen, Baumblüten und Samen, fressen sie in Stuttgart fast alles, was ihnen vor die Schnäbel kommt: Die klebrigen roten Früchte der Eibe, Samen der Akazie, Rinden aller Art, dann Erde in Weinbergen, um Giftstoffe der Pflanzen wieder zu binden. Auf diese Weise haben sie sich sogar gegen die Kälte gewappnet.

Im Rosensteinpark ist Michael Schmolz an diesem Tag umsonst unterwegs. Gänse watscheln über die Wiese, und im Gehölz identifiziert er das "Tititiiii" eines Gartenbaumläufers, aber kein Papageienkrächzen. Schmolz fährt runter zum Neckar, über eine Holzbrücke und dann zum Keppler-Gymnasium. Eine Gruppe hoher Platanen steht dort, eingekeilt zwischen zwei stark befahrenen Straßen. In den Baumkronen hat der Papageien-Schwarm normalerweise seinen Schlafplatz. Schmolz bückt sich und untersucht den Boden: Kein frisches Vogelgeklecker. Vielleicht haben sie im Lüftungsschacht der S-Bahn oder des Kaufhofs Schutz gesucht. Bei schlechter Witterung sind sie dort gesehen worden, wie Schmolz aus Gerüchten weiß.

Als kleiner Junge besaß Hans Herzinger ein Luftgewehr. Mit Freunden schoss er im Bootshaus auf Zielscheiben, wenn es regnete und sie nicht mit dem Boot auf den See fahren konnten. Jeder bekam zehn Schuss. "Ich war immer einer der Besten", erinnert er sich. Den Jagdinstinkt glaubt er, von seinen Großeltern geerbt zu haben, die waren Bauern und gingen in ihrer Freizeit Rehe schießen. In einer Bombennacht des Zweiten Weltkriegs schmolz das Luftgewehr im Feuer. Die Jahre vergingen, es gab noch kein Fernsehen, und um sich die Zeit zu vertreiben, kaufte er ein neues Luftgewehr, Marke Walther, Kaliber 4,5 mm, Baujahr 1950. Später gab er das "Spielzeug" an seine Kinder weiter. Als die aus dem Haus waren, stellte er's in den Schlafzimmerschrank. Und als der Groll gegen die Papageien wuchs, holte er's wieder heraus.

Weil sich die Stadt nicht um das "Umweltproblem Papageien" kümmerte, beschloss Herzinger, die Behörden auf Trab zu bringen. Große Wirkung versprach er sich von einem Geschenk an das Naturkundemuseum, ein ausgestopfter Papagei mit einem Zettel am Fuß, auf dem der Spruch stehen sollte: "Dies war der erste freifliegende Papagei Stuttgarts". Herzinger streicht sich den Bart und kneift vor Freude die Augen zusammen. "Eine humorvolle Geste des Protests", erklärt er, "die hätte mir mit Sicherheit eine Strafanzeige eingebracht." Eine eigenwillige Form des Protests, aber Herzinger ist auch ein eigenwilliger Mann, ein Unternehmer, der gelernt hat, sich durchzusetzen. Sonst hätte er 1991 nicht den Rudolf-Eberle-Innovationspreis von der Baden-Württembergischen Landesregierung bekommen, als Anerkennung für über hundert Patente, die seine Firma für hydraulische Antriebssysteme entwickelt hat. "Sie können mich ruhig zu den wenigen Multimillionären in Stuttgart rechnen", sagt er großmütig. Auch jetzt arbeitet er noch für seine Firma.

Wenn Michael Schmolz sicher gehen will, seine Papageien zu treffen, besucht er Else Schmidt, eine 70-jährige Dame mit schmalem Gesicht, feinen Blutäderchen auf den Wangen und wässrigem Blau in den Augen. Zehn Jahre lang legte sie im Winter Nüsse ins Futterhäuschen ihres Gartens für die Papageien, die den "Sonnenschein" ihres Lebens bedeuten, vor allem an grauen Wintertagen. Als Haushälterin eines großen Altbaus der Innenstadt kommt sie nur zu den Proben ihres Chors aus dem Haus. "Kinder hab i net", sagt sie und guckt verträumt aus dem Fenster: Acht Papageien klettern in der Krone eines Nussbaums mit behäbigen Bewegungen von Ast zu Ast. Frau Schmidt erinnert sich: 15 Jahre ist es her, da schaute zum ersten Mal ein Pärchen vorbei. Lori und Hansi, die Stammeltern, die den Stuttgarter Schwarm begründeten.

Lori und Hansi gibt es nicht mehr. Während Frau Schmidt erzählt, presst sie ein kleines Fotoalbum an die Brust, streckt es vor, zieht es zurück, wie jemand, der einen Satz anfängt, sich dann aber doch nicht traut. Schließlich öffnet sie das Album: Eine Serie mit Hansi und Lori auf Dachrinne und Kinderschaukel, Nussbaum und Futterhäuschen. Woher das Pärchen kam, weiß sie nicht. "Entfloga sen se net, denn se hatta keine Ringe an de Bein. Jemand muss se ausgsetzt haba." Die grüngelben Vögel brüteten, und im nächsten August flogen drei junge Papageien aus einer Baumhöhle. "Der ganze Schwarm kam anfangs zu mir", erinnert sich Else Schmidt. Weil sich Nachbarn über den Lärm beschwerten, durfte sie nicht mehr füttern. Für sie nur schwer verständlich. Sehr schwer. Und dann war da noch die Sache mit dem Papageienmörder. "Ich kann net verstehn, wie ma so bös sei kann und auf die Papageien schießt", sagt sie mit leiser, aber bestimmter Stimme.

"Das habe nicht ich zu verantworten, sondern die Leute, die die Vögel ausgesetzt haben", verteidigt sich Herzinger. Seine Tat sei notwendig gewesen. Und er war als Schütze und Unternehmer der geeignete Mann dafür. Es war ein sonniger Sonntag, im Sommer vor drei Jahren. Er stand auf, zog sich in Ruhe an und holte aus dem Schrank das Luftgewehr. Er wusste, dass die Papageien jeden Tag zwischen sechs und sieben Uhr kommen. Also durchquerte er die Küche ohne zu frühstücken und ging über eine steile Treppe in den Garten hinunter. Drei Papageien saßen auf seinem Walnussbaum und knackten Nüsse. Er legte an, zielte mit ruhiger Hand, drückte ab und traf einen Vogel in die Brust, genau dort, wo er am wenigsten Federn hat. Das Tier war sofort tot. Aus sechs Metern Höhe plumpste es auf die Betonplatten im Garten. Damit der Vogel nicht verweste, er sollte ja schließlich ausgestopft werden, wickelte ihn Herzinger in Alufolie und deponierte ihn in der Tiefkühltruhe. Den Protest seiner Frau stillte er mit dem Gutachten einer Biologin, die versicherte, dass Papageien in Tiefkühltruhen keine Krankheiten übertragen.

Doch es kam anders, als es sich Herzinger wünschte. Ein Präparator sagte ihm, dass es verboten sei, exotische Tiere auszustopfen. Bis zu 50.000 Mark könne ihn das kosten. Hans Herzinger blieb auf seinem Papagei sitzen. Und auf seinem Problem. Zwei Jahre später erzählte er jedem, der ihm über den Weg lief, die Moritat vom toten Vogel in der Tiefkühltruhe, sei's dem Nachbarn übern Gartenzaun, dem Bademeister im Schwimmbad oder einem Jazzfan sonntags im Kursaal. Nichts geschah. Dann hatte Herzinger genug. An einem Donnerstag Mittag entschloss er sich noch einmal auf einen Papagei zu schießen. "Nur um ihn zu erschrecken." Die Kugel traf und blieb im Flügelknochen stecken, dennoch konnte der Papagei flüchten. Ein Nachbar fand den angeschossenen Vogel und brachte ihn zum Stuttgarter Zoo. Die Polizei fand bald heraus, wer das Tier so zugerichtet hatte: Sie ging mit dem Bleiprojektil "Diabolo" zu einem lokalen Waffenhändler. Auch dort hatte Herzinger geplaudert. Eine Woche später klingelte es an Herzingers Tür. "Wir hätten Sie gern etwas zu den Papageien gefragt", sagte einer der vier Polizisten. "Bei mir sind Sie genau richtig", antwortete der.

Herzinger kam vor Gericht. "Nein, der Lärm stört mich nicht, es geht mir nicht um die Papageien in meinem Garten", verteidigte er sich. "Sondern darum, dass exotische Tiere ausgewildert wurden, gegen das Gesetz." Doch die Richterin ließ sich nicht überzeugen: "Was Sie den Menschen vorwerfen, hat doch der Papagei nicht zu verantworten." Im Sommer 1999 verurteilte sie Herzinger wegen Verstoßes gegen das Tierschutzgesetz, Paragraph 17, Ziffer 1 zu 2.250 Mark Strafe. Im Oktober bekam er auch noch eine Rechnung vom Tierarzt des Stuttgarter Zoos, wo man den angeschossenen Vogel gesund gepflegt hatte: "Unterbringung und Pflege in geräumiger Einzelvoliere 5.200 Mark, Inhalationsnarkose 100 Mark, Schienung des Unterarms 60 Mark, Röntgenaufnahmen 160 Mark ...". Insgesamt 7.630,83 Mark, die Herzinger anstandslos überwies. Geschlagen gibt er sich aber nicht. "Ich recherchiere und bekomme raus, wer die Population der Papageien gefördert hat", schwört der Unbeugsame. "Und dann erstatte ich Anzeige."

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