Der Pinguin muss warten

Im Gespräch Der ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow über Spaltungsgefahren, West-Ost-Konflikte und die Schwerkraft eines kollektiven postsowjetischen Gedächtnisses in seinem Land

Er zählt zu den prominentesten ukrainischen Gegenwartsautoren und ist über sein Land hinaus bekannt. Die Bücher des Andrej Kurkow (43) wurden zwischenzeitlich in 20 Sprachen übersetzt. Auf deutsch erschien zuletzt der Roman Pinguine frieren nicht. Einen Namen hat sich Kurkow auch als Autor von Szenarien gemacht, nach denen bislang 17 Filme gedreht wurden.

FREITAG: Müssen wir uns darauf einstellen, dass sich in Ihrem Land eine Art Doppelherrschaft etabliert? ANDREJ KURKOW: Die gab es schon seit den ersten Tagen der Proteste. Unzählige Stadträte und Regionalvertretungen aus der West- und der Zentralukraine haben Viktor Juschtschenko zu ihrem Präsidenten erklärt. Und der selbst hat mit der Ablegung eines Amtseids am 23. November seinen Anspruch auf das Amt bestätigt.

Steht nach den jüngsten Entwicklungen der ukrainische Osten weiter hinter Viktor Janukowitsch?
Durchaus. Wobei ich das nicht ausschließlich in geographischen Kategorien sehen würde. Was die Ukraine zu spalten droht, das sind zwei völlig unterschiedliche Konzepte von Politik. Ich glaube allerdings, dass die Menschen grundsätzlich ein Konzept ablehnen, das sie manipuliert und der Korruption aussetzt - sie wollen keinen Machtmissbrauch mehr.

Auch meine Eltern haben Angst, dass die Ukraine von radikalen Nationalisten übernommen wird

Warum gibt es eine solche Aufbruchsstimmung, die weit über das hinausgeht, was es bisher je an Protestbewegung gab?
Die Initialzündung kam von der Jugend - von Studenten, von ganz jungen Leuten, die sich vor zwei, drei Jahren noch gar nicht für Politik interessiert haben. Diese Generation ist - wenn Sie so wollen - genetisch vollkommen anders als der immer noch von Furcht besetzte postsowjetische Mensch.

Der politische Konflikt wäre demnach zum Teil auch ein Konflikt der Generationen.
Aber nur zum Teil. Es sind ja inzwischen auch viele von den Älteren, die sich für Juschtschenko einsetzen. Bis zu einem gewissen Grad haben Sie allerdings Recht: Die ältere Generation ist für eine staatliche Propaganda anfälliger, die Juschtschenko als extremen Nationalisten darstellt. Ich erlebe das in der eigenen Familie - meine Eltern haben beide Janukowitsch gewählt. Dabei sind sie keine einfachen Leute, von denen man sagen könnte: Gut, die haben der Regierung geglaubt. Meine Mutter ist pensionierte Ärztin, mein Vater war früher Testpilot. Aber auch meine Eltern haben eben Angst, dass die Ukraine von radikalen Nationalisten übernommen wird. Und nichts kann sie davon überzeugen, dass das nicht der Fall sein wird.

Liegt das nicht auch daran, dass Ihre Familie ursprünglich aus Russland stammt und Janukowitsch der von Russland hofierte Kandidat war?
Ich habe erst gestern am Telefon ein ziemlich heftiges Gespräch über dieses Thema mit meinem Vater geführt. Du bist doch Russe, hat er immer wieder gesagt, du musst doch für Janukowitsch sein! Ich fühle mich aber nicht als Russe - ich bin Ukrainer russischer Herkunft.

Eine ungewöhnliche Definition.
Gewiss. Typischer sind - vorzugsweise im Osten - Menschen ukrainischer Herkunft, die aber trotzdem Russen sein möchten. Diesen Typus verkörpert auch Viktor Janukowitsch, der bisher kaum einen geraden Satz auf Ukrainisch sagen konnte. Im Osten ist das weit verbreitet. Das war die Gegend, in der man während der Sowjetzeit fast ausschließlich Russisch sprach.

Juschtschenko wiederum tut so, als ob er Schwierigkeiten mit dem Russischen hätte.
Die hat er selbstredend nicht, aber er hat sich eine Zeit lang einen künstlichen Akzent im Russischen zugelegt und absichtlich Fehler eingebaut - wohl um die Menschen davon zu überzeugen, dass er hundertprozentig ukrainisch ist. Neulich habe ich ihn allerdings bei einer Debatte gehört, da sprach er ebenso fehlerfrei Russisch wie Ukrainisch.

Weshalb haben sich nicht zuletzt die Oligarchen aus dem Osten der Ukraine so massiv für Janukowitsch eingesetzt.
Man darf nicht vergessen, dass die Privatisierung der großen Unternehmen der Stahl-, Elektro- und Erdölindustrie im Osten unter der Präsidentschaft von Leonid Kutschma vollkommen undurchsichtig ablief. Da wurden gigantische Ressourcen zu Spottpreisen verschoben. Janukowitsch hätte garantiert, dass weiterhin keiner allzu genau danach fragt, was da passiert ist.

Aber ist die wirtschaftliche Macht der Oligarchen inzwischen nicht derart groß, dass es ihnen ziemlich egal sein kann, wer Präsident wird?
Für die Oligarchen in Kiew mag das zutreffen. Denen kann das fast - ich sage fast - egal sein. Im Osten, wo 75 Prozent der ukrainischen Exporteinnahmen erwirtschaftet werden, stellt sich das etwas anders dar. Ich glaube schon, dass unter den Oligarchen die Angst grassiert, mit Juschtschenko könnten bestehende Monopole aufgebrochen werden. Und das wollen sie auf keinen Fall und haben deshalb so viel Geld in Janukowitsch gesteckt, dass es jetzt natürlich schwer fällt, aus der verfahrenen Sache auszusteigen.

Was hat Sie an der Präsidentschaft von Leonid Kutschma besonders gestört?
Persönlich hatte ich nie Probleme mit der Kutschma-Administration, aber immer wieder mit der Korruption. Was mich am meisten störte, war das katastrophale Image der Ukraine im Ausland. Wenn ich heute in den Westen komme und meinen ukrainischen Pass zeige, bin ich sofort verdächtig. Als ich kürzlich in London Geld abheben wollte und dazu meinen Pass vorlegen musste, hat die Bankangestellte zuerst die Augen weit aufgerissen und ist dann für 20 Minuten verschwunden - wahrscheinlich, um zu überprüfen, ob ich nicht irgendein Geldwäscher, Drogendealer oder sonstiger Mafiosi bin.

Ich glaube schon, dass unter den Oligarchen die Angst grassiert, mit Juschtschenko könnten bestehende Monopole aufgebrochen werden

Und Juschtschenko wird das Bild der Ukraine in der Welt schlagartig verändern?
Vielleicht nicht auf einen Schlag. Aber ich glaube schon daran, dass der Präsident so etwas ist wie das Gesicht eines Landes. Ich denke auch, dass er jetzt ein Land vertreten kann, in dem die Zivilgesellschaft endlich angekommen ist.

In ihrem Buch "Picknick auf dem Eis" verstrickt sich die Hauptfigur derart stark in Beziehungen mit der überall lauernden Mafia, dass sie schließlich als Pinguin in die Antarktis flüchten muss. Wenn wir den Pinguin als Sinnbild für die von der Mafia bedrohte Ukraine nehmen: Muss der Pinguin immer noch flüchten?
Nein, der Pinguin muss warten.

Worauf?
Darauf, wie sich die Lage in der Ukraine entwickelt. Vielleicht muss er nicht mehr flüchten, vielleicht doch.

Ihr jüngster Roman heißt "Die letzte Liebe des Präsidenten" und erscheint gerade auf deutsch. Ein Buch mit aktuellen politischen Bezügen?
Es handelt von einem typisch postsowjetischen Menschen, ungefähr so alt wie ich, der im Jahr 2011 zufällig ukrainischer Präsident wird. Der Präsident ist natürlich eine fiktive Gestalt, im Hintergrund gibt es aber schon eine Reihe von Figuren, die ihre Vorlagen in der heutigen Ukraine finden - das heißt, das Buch ist nicht zuletzt von diversen Absurditäten durchzogen, wie es in der ukrainischen Politik so unendlich viele gibt.

Wie definieren Sie den Begriff des postsowjetischen Menschen? Leute, die das Alte wollen und daher Janukowitsch unterstützen?
Nicht nur diese Schichten - wir alle hier in der Ukraine sind postsowjetisch. Mit Ausnahme derer, die nach 1985 geboren wurden und die Triebkraft der Revolution in orange sind.

Aber sind Sie nicht auch dafür?
Ja, aber in meinem Herzen gibt es, wie im Herzen eines jeden postsowjetischen Menschen, eben auch ein Quäntchen Nostalgie, das sich auf die alten Zeiten bezieht. Wir vergleichen dauernd das Leben heute mit dem von damals, in der Zeit der Sowjetunion. Und auch wenn wir nicht zurück wollen, irgendwie lässt uns diese Zeit nicht los.

Das Gespräch führte Piotr Dobrowolski


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