Wenn sie will, dann kann Ursula von der Leyen verdammt schnell sein. Anfang März, als die Türkei im Alleingang die Grenze zu Griechenland öffnete und Tausende Geflüchtete das verbarrikadierte Tor nach Europa aufstoßen wollten, war die Chefin der EU-Kommission sofort zur Stelle. Griechenland sei das europäische „Schutzschild“ im Kampf gegen die illegale Einwanderung, erklärte die CDU-Politikerin am Grenzfluss Evros. Athen werde schnellstens Hilfe aus Brüssel bekommen, versprach sie. Das politische Signal war klar: Die EU lässt sich nicht erpressen, hier kommt niemand rein.
Doch nun, angesichts des neuen Dramas auf der griechischen Insel Lesbos, hat es von der Leyen plötzlich nicht mehr eilig. Anstatt ins Flugzeug zu steigen und vo
gen und vor Ort Flagge für Europa zu zeigen, schickte sie ihren Stellvertreter Margaritis Schinas.Der griechische EU-Kommissar mit der bizarren Aufgabenbeschreibung „Promoting the European Way of Life“ durfte die qualmenden Ruinen des abgebrannten Lagers Moria besichtigen und der Regierung in Athen erneut Hilfe zusagen. Doch ein politisches Signal durfte er nicht setzen. Denn die Migrationspolitik ist zum verminten Gelände geworden. „Das Thema ist toxisch“, sagt ein erfahrener EU-Diplomat in Brüssel. Einen Konsens gibt es eigentlich nur noch darüber, dass die EU-Außengrenzen gesichert und aufgerüstet werden. Deshalb konnte von der Leyen im März auch so schnell reagieren. Alles andere ist strittig.Was soll mit den 13.000 obdachlosen Flüchtlingen auf Lesbos geschehen? Dürfen sie Griechenland verlassen und auf die 27 EU-Länder verteilt werden? Was wird aus dem Deal mit der Türkei, den Kanzlerin Angela Merkel mit Präsident Recep Erdoğan geschlossen hat – und der Lager wie Moria überhaupt erst möglich machte?Von der Leyen bleibt eine Antwort schuldig. Statt Moria zur Chefinnensache zu machen, verweist sie auf einen Vorschlag zur Reform des europäischen Asylsystems, den die EU-Kommission am 23. September vorlegen will. Moria muss warten, der neue „Migrationspakt“ hat Vorrang. Eigentlich sollte diese Reform schon im April kommen. Doch dann machte Erdoğan die Grenze zu Griechenland auf, drohte mit einer Wiederholung der starken Migration von 2015 und stellte den Flüchtlingsdeal infrage. Dies habe die Reform verzögert, heißt es in Brüssel. Statt um eine humane Asylpolitik ging es wieder um Abschottung, der „Migrationspakt“ wurde aufgeschoben.Immer die Festung EuropaFünf Monate später sieht es kaum besser aus. Das Drama auf Lesbos wird von den meisten EU-Ländern nicht als Weckruf betrachtet, sondern als Gefahr für die mühsam erbaute Festung Europa. Vor allem Österreich und Dänemark warnen: Wenn man jetzt den Kurs ändere und Flüchtlinge aus Moria aufnehme, wäre dies ein „Pull-Faktor“, der wie ein Magnet weitere Migrant*innen anziehen werde.Griechenland wiederum fürchtet den Kontrollverlust. Die konservative Regierung in Athen, die eng mit Angela Merkel und von der Leyen zusammenarbeitet, hat nicht nur Angst vor neuen Flüchtlingstrecks, sondern auch vor Corona. Mitten in einem erbitterten Streit mit Erdoğan um die Grenzen in der Ägäis und türkische Gasbohrungen im östlichen Mittelmeer will man nicht das geringste Risiko eingehen.Mittlerweile geht es um Außenpolitik und die Fähigkeit, andere Länder auf Linie zu bringen. Dies zeigt auch der Vorschlag, den die EU-Kommission in der kommenden Woche präsentieren will. Bei einem Besuch in Berlin hat EU-Kommissar Schinas die Grundzüge präsentiert. Sie machen wenig Hoffnung.Die Reform gleiche einem „Haus mit drei Stockwerken“, so Schinas. Die erste Etage und damit die Basis sollen Abkommen mit Herkunfts- und Transitländern bilden – mit dem Ziel, dass sich möglichst wenige Migranten auf den Weg nach Europa machen. Auf der zweiten Etage soll ein „robuster Außengrenzenschutz“ angesiedelt werden. Er soll die Festung Europa nochmals verstärken. Erst danach, auf der dritten und wohl letzten Ebene, soll ein System europäischer Solidarität entstehen. Es dürfte allerdings kaum über das Prinzip hinausgehen, dass sich alle EU-Staaten irgendwie beteiligen müssen. Wer keine Asylbewerber*innen aufnehmen möchte, könnte für den Grenzschutz zahlen oder Personal schicken, so die Idee in Brüssel.Doch selbst dieser vage Drei-Stufen-Plan hat kaum Chancen, schnell verabschiedet zu werden. Der deutsche Ratsvorsitz rechnet jedenfalls nicht damit, dass es in diesem Jahr noch zu einer Einigung kommt. Anders als 2015 will Merkel kein politisches Kapital mehr in eine wie auch immer geartete „europäische Lösung“ investieren: Die Erfolgsaussichten sind denkbar schlecht.Nicht nur Ungarn und Polen stellen sich quer. Auch Erdoğan macht Merkel das Leben schwer. Wenn es der Kanzlerin nicht gelingt, den türkischen Machthaber zur Räson zu bringen und den seit März suspendierten Flüchtlingsdeal zu reaktivieren, wird das Gedankengebäude einer neuen Asyl- und Migrationspolitik in sich zusammenbrechen. Denn dann sind sowohl die erste als auch die zweite Etage hinfällig. Die größten Chancen auf Realisierung hat daher ein ganz anderer Plan: Moria soll wiederaufgebaut werden – als Muster für neue, effizientere Auffanglager, die gleichzeitig als Abschieberampe dienen. Schinas sagte, dass die griechische Regierung „sehr schnell eine moderne Einrichtung“ aufbauen werde, die von der EU mitgetragen wird und von Asylanträgen bis zur Abschiebung alles erledigt.Wenn es tatsächlich so kommt, so dürfte vor allem einer jubeln: Bundesinnenminister Horst Seehofer. Der CSU-Politiker wäre seinem Ziel einen großen Schritt näher, die lästigen Asylverfahren wieder zurück nach Südeuropa zu verlagern. Statt in Deutschland würde der Prozess künftig in Griechenland, Italien oder auf Malta stattfinden. Es wäre eine Rückkehr zu „Dublin“ durch die Hintertür.Nach der Dublin-Verordnung müssen alle Flüchtlinge in dem EU-Staat Asyl beantragen, den sie als erstes betreten. In der Migrationskrise 2015 war dieses System zusammengebrochen und schließlich ausgesetzt worden, Kanzlerin Merkel wollte es abschaffen. Nun könnte es zurückkommen – auf Druck der deutschen Regierung. Ausgerechnet das Drama auf Moria könnte dabei wie ein Brandbeschleuniger wirken.Placeholder authorbio-1