Für Gabriels politische Defizite gibt es kein besseres Beispiel als CETA
Foto: Odd Andersen/AFP/Getty Images
Es gibt noch Leute, die dem SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel einen klaren Kurs zutrauen. Einen linken sogar. Das sind allerdings nur diejenigen, die davon leben, Rot-Rot-Grün als unmittelbar bevorstehende Katastrophe für das Vaterland an die Wand zu malen. Das Spektrum reicht von CDU-Generalsekretär Peter Tauber („Unser Hauptgegner im Wahlkampf bleiben die Sozialdemokraten und Rot-Rot-Grün“) bis zum ehemaligen CSU-Promi und Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich, der sogar schon weiß, was kommt: der „Enteignungsstaat“.
Noch genauer im Bilde ist der diensthabende Dampfplauderer an der Abbruchkante vom Konservatismus zum Rechtspopulismus, Hugo Müller-Vogg. Gabriel, schreibt er, habe „die Scheidung von Angela Merkel und der CDU/CSU &
CDU/CSU … für Herbst 2017 terminiert. Bis dahin macht Gabriel aus seiner wahren Liebe keinen Hehl: die Linke“. Was bei Rot-Rot-Grün herauskommt, steht für ihn fest: „Einheitsrente und Zwangs-AOK für alle.“Nun lässt sich einer Zwangs-AOK für Tauber, Friedrich und Müller-Vogg zwar einiges abgewinnen, aber: Die Bürgerversicherung, die mit dem Wutschreiber-Begriff „Zwangs-AOK“ gemeint ist, wird auch nach 2017 wohl nicht kommen. Ebenso wenig wie die Besteuerung großer Vermögen, die Friedrich mit „Enteignung“ meint. Selbst die Warner warnen ja nicht deshalb, weil sie daran glauben würden. Mit dem guten alten Popanz von der rot-rot-grünen Bedrohung wollen sie vielmehr einen Gegner kreieren, um die rechten Reihen zu schließen.Alternative zu Merkel?Das Gegenmittel der Sozialdemokratie bestünde darin – fast muss man sagen: hätte darin bestanden –, rot-rot-grüne Ziele wie Bürgerversicherung und Steuergerechtigkeit frühzeitig und eindeutig zu vertreten, statt sich vor dem konservativen Gegenwind wegzuducken. Es hätte zumindest in dem Versuch bestanden, der Hetze von rechts etwas entgegenzusetzen, um das alternative Regierungsbündnis im öffentlichen Diskurs „gesellschaftsfähig“ zu machen.Aber der Sigmar Gabriel muss erst noch erfunden werden, der die Weichen eindeutig auf eine Alternative zu Angela Merkel stellen würde. Er hat es nicht einmal zwischen 2009 und 2013 getan, als die SPD gemeinsam mit Grünen und Linken der schwarz-gelben Regierung als Opposition gegenüberstand. Und erst recht hat er es nicht gewagt aus der Großen Koalition heraus, in die er seine Partei 2013 hineinmanövriert hat.Um die Alternative zum Merkelismus „gesellschaftsfähig“ zu machen, müsste Gabriel mehr tun, als einen Schnupperkurs rot-rot-grüner Abgeordneter durch einen medienwirksamen Kurzbesuch zu stören, wie gerade in Berlin geschehen. So etwas mag sich auszahlen in der Lieblingswährung von Show-Politikern: Aufmerksamkeit. Eine echte politische Wende aber bereitet man anders vor: mit politischen Ansagen, die zeigen, wohin die Reise geht. Auch wenn sich aus der Großen Koalition heraus noch nicht viel davon durchsetzen lässt. Und mit einer Politik – auch das ist mit „gesellschaftsfähig“ gemeint –, die sich als Bündnispartnerin sozialer Bewegungen versteht.Genau das hat Sigmar Gabriel versäumt, und zwar nicht erst seit gestern. Niemand hat noch einen Grund, dem SPD-Vorsitzenden einen klaren und linken Kurs zu unterstellen – außer denen, die daraus ihr politisch-publizistisches Angstsüppchen kochen, siehe oben. Allgemeine Bekundungen wie zuletzt bei der „Zukunftskonferenz“ der SPD (Motto: Deutschland braucht eine andere Richtung) werden daran nichts ändern.Es gibt für Gabriels Versagen kein besseres Beispiel als CETA. Das Freihandelsabkommen der EU mit Kanada ist in diesen Tagen zum Muster dafür geworden, wie man eine breite Bewegung in der Gesellschaft (und in der eigenen Partei) vor den Kopf stößt, statt sich mit ihr im Sinne einer gemeinwohlorientierten Globalisierung zu verbünden.Zur Erinnerung: Als der Widerstand in der eigenen Partei zu groß zu werden drohte, zog der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel gemeinsam mit der widerspenstigen Basis ein paar „rote Linien“, die der SPD-Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel nicht überschreiten sollte. Es gab dann Zusatzerklärungen und Korrekturen bei den berüchtigten Schiedsgerichten, was nun beide – den Parteivorsitzenden Gabriel und den Wirtschaftsminister Gabriel – in eine derartige Begeisterung versetzte, dass der Doppelfunktionär sich kein schöneres Freihandelsabkommen mehr vorstellen konnte.Nun fiel zwar nicht nur den zahlreichen gesellschaftlichen Organisationen, die sich gegen CETA und TTIP wehren, sondern auch großen Teilen der SPD-Linken durchaus auf: An der grundlegenden Fehlkonstruktion solcher Abkommen hatte sich kaum etwas geändert. In Stichworten: Die Festschreibung des Vorsorgeprinzips gilt weiter vielen Experten als lückenhaft, bei der Sicherung der Daseinsvorsorge sehen sie Widersprüche zwischen Vertragstext und Zusatzprotokollen, die Schiedsgerichte werten sie nach wie vor als Nebenjustiz zur Privilegierung von Unternehmensinteressen, um nur die wichtigsten Punkte anzudeuten. Aber die Kritik prallte an Sigmar Gabriels Lobpreisungen für das Abkommen ab.Wagemutige AusfallschritteEs bedurfte des Aufstands einer kleinen belgischen Region, um deutlich zu machen, dass CETA noch lange nicht das großartige Projekt war, zu dem der deutsche SPD-Vorsitzende es stilisierte. Warum die Wallonen es am Ende doch nicht schafften, das ganze Vertragswerk zu kippen, muss hier nicht im Detail nachvollzogen werden. Aber eins ist festzuhalten: Sigmar Gabriel hat an vorderster Front demonstriert, wie man den politischen und medialen Diskurs beeinflussen kann. Allerdings nicht im Sinne einer kritischen Auseinandersetzung, mit der angesichts des deutschen Gewichts in der EU womöglich mehr zu erreichen gewesen wäre. Sondern im Sinne der Legende, dass Europa zerstöre, wer CETA bekämpft.Anpassung an den polit-ökonomischen Mainstream, notdürftig kaschiert durch symbolische Signale nach links: Das ist der Fixpunkt sozialdemokratischer Politik, wie der SPD-Vorsitzende sie versteht. Und das keineswegs nur in Sachen Freihandel, sondern auch – um nur noch zwei Stichworte zu nennen – bei Themen wie Energiewende und Klimaschutz. Daran ändern auch plötzliche Ausfallschritte wie die wagemutige, aber rechtlich unhaltbare Ministererlaubnis für die Edeka-Tengelmann-Fusion nichts. Immerhin wurden durch den Schlichterspruch in der Causa nun die allermeisten der 15.000 Jobs gerettet.Rund um diesen Fixpunkt kreisen all die bunten Satelliten, die die Aufmerksamkeit von Politik, Presse und Publikum so wunderbar zu absorbieren pflegen. Und nicht wenige dieser Satelliten erweisen sich als Leuchtraketen, die Sigmar Gabriel selbst gezündet hat.Jüngstes Beispiel: die Wahl des Bundespräsidenten. Frank-Walter Steinmeier öffentlich aus dem Ärmel zu ziehen, mag machttaktisch interessant gewesen sein, weil der Liebling der demoskopisch erfassten Deutschen von allen Seiten so schlecht abzulehnen ist. Aber hätte Gabriel ein Wende-Signal senden wollen, dann wäre er längst auf der Suche nach einer Kandidatin, die für das widerständige Potenzial hierzulande stünde. Warum nicht eine Schriftstellerin mit politischem Profil wie Juli Zeh? Und: Gabriel würde eine solche Kandidatur gemeinsam mit Grünen und Linken vorbereiten, statt öffentlich mit Namen um sich zu werfen.Ähnliches gilt übrigens für die Kanzlerfrage: Hier bestünde das Wende-Signal schlicht darin, die eigene Kandidatur sofort zu verkünden. Allerdings verbunden mit dem klaren Anspruch, die Kanzlerschaft auch zu erobern, und zwar – siehe wiederum oben – auf dem einzigen Weg, der wenigstens schwache Aussichten dafür bietet: durch eine klare rot-rot-grüne Ausrichtung im Bündnis mit gesellschaftlichen Bewegungen wie derjenigen gegen CETA und TTIP oder den zahlreichen Initiativen für eine Energiewende, die diesen Namen verdient.Insgesamt gilt: Gabriels Gehabe wäre relativ egal, ginge es nur darum, mit mehr oder weniger Häme die „Performance“ eines beliebigen Politikers mit notorischer Navigationsschwäche zu rezensieren. Aber dummerweise reden wir vom Vorsitzenden derjenigen Partei, die auf dem Weg zur Wende in diesem Land die Führung übernehmen müsste. Oder realistischer: hätte übernehmen müssen.Denn aller Wahrscheinlichkeit nach ist es bereits zu spät. Nicht nur, weil Rot-Rot-Grün 2017 die notwendige Mehrheit im Bundestag verfehlen könnte. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Diese Mehrheit liegt in weiter Ferne, weil wieder eine Legislaturperiode lang nichts geschehen ist, was diese Parteien – und vorneweg die SPD – zum Bezugs- und Sammelpunkt der Such- und Protestbewegungen hätte machen können, die es ja keineswegs nur am rechten Rand der Gesellschaft gibt.Nur im Zusammenspiel zwischen diesen Bewegungen und den sogenannten fortschrittlichen Parteien hätte es die Chance gegeben, den Wechsel im öffentlichen Diskurs zumindest als reale Möglichkeit zu verankern. Und nur dann wäre ein haltbares Bündnis dieser drei Parteien überhaupt denkbar gewesen. Sigmar Gabriel dürfte in die Geschichte eingehen als der SPD-Vorsitzende, der diese Chance verspielt hat.Placeholder authorbio-1Placeholder link-1
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