Der pragmatische Helfer

Porträt Mike Schubert ist Potsdams Oberbürgermeister und weiß, was Deutschland in dieser Flüchtlingskrise tun soll
Ausgabe 10/2020
Mike Schubert will Geflüchtete aufnehmen, sagt aber auch, dass faire Asylverfahren durchaus mit Rückführungen enden können
Mike Schubert will Geflüchtete aufnehmen, sagt aber auch, dass faire Asylverfahren durchaus mit Rückführungen enden können

Foto: Metodi Popow/Imago Images

Lesbos ist schon wieder weit weg und doch ganz nah an diesem Dienstagmorgen in der Villa Schöningen in Potsdam. Hohe Decken, ausladende Fenster mit Blick auf die Havel, an den Wänden sind gerade Werke des Malers Norbert Bisky zu sehen, die einen Eindruck vom Alltagsleben der DDR vermitteln sollen. Die Pressekonferenz zur Tourismusbilanz der Stadt eröffnet Mike Schubert mit den Worten: „Ich freue mich, dass wir hier, an einem so wunderschönen Ort, Asyl bekommen haben.“ Dann freut er sich über ein 4,8-Prozent-Plus bei den Übernachtungen 2019, referiert, dass die meisten ausländischen Touristen aus den Niederlanden, Polen und Spanien nach Potsdam kommen und blickt voraus auf die vielen anstehenden Jubiläen, unter anderem auf die 335-Jahr-Feier des Toleranzedikts, mit dem einst Friedrich Wilhelm von Brandenburg den verfolgten Hugenotten Zuflucht gewährte.

Potsdams Oberbürgermeister ist seit gerade einmal drei Tagen zurück von seinem Besuch des überfüllten Flüchtlingslagers Moria auf Lesbos, mit Vertretern der evangelischen Kirche und der Initiative Seebrücke war er nach Griechenland gereist, um sich ein Bild von den Zuständen zu machen, unter denen die gut 20.000 Geflüchteten ausharren müssen: feuchte Hütten, bedrückende Enge, ein hygienischer Ausnahmezustand – in über das Internet verbreiteten Videos nannte Schubert dies „eine Schande für Europa“. Der 47-Jährige ist eines der Gesichter des Bündnisses „Städte sicherer Häfen“, gegründet im vergangenen Juni auf Initiative der Seebrücke, mittlerweile sind 46 deutsche Kommunen dabei, von Erlangen über Tübingen und Magdeburg bis Greifswald und Lübeck, von Potsdam aus koordiniert Mike Schubert die Arbeit. Was Deutschland angesichts der Zustände an der Landgrenze zwischen der Türkei und Griechenland sowie auf Inseln wie Lesbos tun soll, ist für ihn und das Bündnis völlig klar. „Wir haben lang genug geredet.“ Nun sei endlich Zeit für sofortige Lösungen, konkret: vor allem die etwa 500 unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten des Lagers Moria in Deutschland aufnehmen, diese Plätze haben 40 Kommunen ab sofort angeboten. Die Bundesregierung solle endlich den Weg frei machen, der Ball liege bei CSU-Bundesinnenminister Horst Seehofer. „Wer die Zustände hier gesehen hat, der weiß, dass wir nicht länger warten dürfen“, hatte Mike Schubert per Internet-Videobotschaft von Lesbos aus wissen lassen.

Seit mehr als 20 Jahren ist Schubert in der Kommunalpolitik in Potsdam aktiv. Er wurde 1973 in Schwedt geboren, sein Vater war in den 1960ern erfolgreicher Wassersportler mit Weltmeistertiteln im Wildwasser-Kanu, 1975 zog die Familie nach Potsdam um, wo Mike Schubert im Stadtteil Zentrum-Ost aufwuchs, im Plattenbau. An seiner Gesamtschule suchte die DEFA des Öfteren Kinder für ihre Filme, so kam Schubert als Zweitklässler zu einem Auftritt in der Serie Spuk im Hochhaus. Nach Ausbildungen zum Industrieelektroniker im Geräte- und Reglerwerk Teltow und zum Einzelhandelskaufmann in Berlin-Zehlendorf verbrachte er den Wehrdienst als Pressesoldat im Kosovo, entschied sich für ein Wirtschafts- und Politik-Studium in Potsdam, mit 22 trat er in die SPD ein. „Die gute Mitte“ seien die Sozialdemokraten für ihn gewesen. Außerdem habe er „nicht mehr nur Zeitung lesen und meckern“ wollen. Einige Jahre später wurde Schubert zum ersten Mal in die Potsdamer Stadtverordnetenversammlung gewählt, 2005 stieg er dort zum Fraktionschef auf.

Das Thema Flucht und Migration beschäftigt ihn nicht erst seit seiner Wahl zum Oberbürgermeister 2018. In Brandenburgs Innenministerium verantwortete er 2015, als viele Geflüchtete innerhalb kurzer Zeit nach Deutschland kamen, das Referat für Brand-, Katastrophenschutz und Rettungswesen, war also etwa für die Bereitstellung von Unterkünften mitverantwortlich. Er habe damals erlebt, wie zerbrechlich das Vertrauen der Menschen in den Rechtsstaat sein kann, sagt er dem Freitag nach der Pressekonferenz. Einige, vermutet er, seien damals auch deshalb verunsichert gewesen, weil der Staat nicht souverän genug mit der Situation habe umgehen können. „Menschen haben eine gewisse Erwartungshaltung an den Staat, die wir im Auge behalten müssen.“ Eine Zahl von aufzunehmenden Geflüchteten in den Raum zu werfen, die vorhandene Kapazitäten übersteigt, hält Schubert deshalb für gefährlich. „Das vergiftet die Stimmung.“ Damit die Menschen die Flüchtlingspolitik mittragen, müssten sie sich auf einen funktionierenden Rechtsstaat verlassen können. Dazu gehörten faire Asylverfahren für alle – an deren Ende Rückführungen stehen können. „Sonst führt sich ein Staat ad absurdum.“

Schubert stilisiert sich nicht zum humanitären Helden; ist eher ein pragmatischer Macher, der mit ruhiger Stimme spricht und an seinen politischen Ziehvater, Brandenburgs früheren Ministerpräsidenten Matthias Platzeck, erinnert; der war auch einmal SPD-Bundeschef.

Dessen heutiger Nachfolger Norbert Walter-Borjans wurde vor einigen Wochen vielfach belächelt, als er auf die Frage nach möglichen SPD-Kanzlerkandidaten antwortete: „Die SPD hat viele Talente. Das können auch Landtagsabgeordnete oder Oberbürgermeister sein. Wir müssen nicht zwingend auf Personen im Kabinett oder an der Spitze der Partei fixiert sein.“ Kanzlerkandidat wird Schubert kaum werden – welcher Typ von Politiker Walter-Borjans aber vor Augen stand, wird mit Blick auf Schubert klarer. Auf dessen und Saskia Eskens Durchsetzungsvermögen in der Großen Koalition hofft Schubert nun, um die 500 jungen Geflüchteten aufnehmen zu können. SPD-Co-Chefin Esken ließ verlauten: „Der Bundesinnenminister muss endlich den Weg frei machen für die Kommunen und Bundesländer, die sich zur Aufnahme dieser Kinder bereit erklärt haben.“

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