Ein alter Traum der Menschheit wird wahr", lautet eine Beschwörungsformel des technischen Fortschrittes. Wenn es um die ethische Legitimität medizinischer Praxis geht, begegnet man ähnlichen Motiven. Der Verweis auf alte Menschheitsträume löst sich ab mit dem Hinweis, es gehe darum, Krankheiten zu heilen und damit Leiden zu lindern. Gleichgültig ob es um Genforschung, Reproduktions- oder Transplantationsmedizin geht, der Verweis auf die normative Kraft des Möglichen ersetzt in der Regel die ethische Auseinandersetzung. Diese Sprachlosigkeit ist aber kein Problem der Medizin, sondern eines der Gesellschaft. Die Transplantationsmedizin soll im Folgenden nicht zum Thema werden hinsichtlich der Widersprüchlichkeit, die sich in oder aus ihrem Tun oder Lassen ergibt, etwa aus der Hirntoddefinition. Von Interesse ist sie hinsichtlich der gesellschaftlichen Widersprüchlichkeit, die sich in ihrem Tun und Lassen spiegelt. Gemeint ist, dass die Aufgabe, den Menschen zu definieren, heute nicht mehr der Religion oder der Philosophie, sondern der Medizin zufällt.
Die neuen Vordenker und ihr ahistorisches Abbild der Gegenwart
Die von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung initiierte Debatte um die Medizin und ihre Randgebiete macht deutlich, dass die bestehende Sprachlosigkeit über die Qualität von eigenständigem Leben, Bewusstsein und Subjektivität in der Tradition bürgerlicher Wissenschaft wurzelt. Mit der positivistischen Ächtung der Metaphysik wurde jede Aussage, die über die Beschreibung des Bestehenden hinausgeht oder dieses transzendiert, aus dem wissenschaftlichen Diskurs verbannt und ein ahistorischer und affirmativer Begriff vom Menschen, von Subjektivität und Bewusstsein gekürt.
Dies wird etwa in dem im Feuilleton der FAZ vom 6. Juni 2000 abgedruckten Beitrag von Bill Joy deutlich. Joy plaudert durch die Zukunft, ohne einen Begriff von Vergangenheit zu haben: Ihm ist das Bewusstsein nichts Historisches, sondern statisches Abbild des Gegenwärtigen. Unbelastet von solchen Auseinandersetzungen können für Joy dann auch Maschinen Bewusstsein haben. Die Ethik des Genoms, wie sie vom Nobelpreisträger James D. Watson in derselben Zeitung proklamiert wird, kann auch nichts anderes sein als die Verdoppelung der herrschenden Verwertungslogik: Eltern, die ein behindertes Kind abtreiben lassen, folgen dem berechtigten Wunsch, Leiden zu verhindern. Die Bedingungen, unter denen Behinderung Leiden ist, werden nicht reflektiert und können mit dieser Ethik auch gar nicht reflektiert werden. Das, was den Menschen auszeichnet, Subjektivität und Bewusstsein, sind aber historische Größen: Sowohl im Hinblick auf die Entwicklung des Einzelnen, als auch als das Produkt eines Zivilisationsprozesses.
Die Menschheits- und Kulturentwicklung, schreibt Sigmund Freud 1930, habe phantastische Formen angenommen. Das Mangelwesen Mensch sei ein Prothesengott geworden. Der Körper des Menschen, jederzeit bereit, Leiden und Unlust zu vermitteln, werde gottgleich, wenn er alle seine Prothesen anlegt. Mit der Metapher des Prothesengottes verweist Freud auf einen Aspekt der medizinischen Prothetisierung des Menschen: Seine Vergottung.
Die Naturbeherrschung habe sich, so Freud, märchenhaft entwickelt. Verkörperten lange Zeit Götter die menschliche Idealvorstellung von Allmacht und Allwissenheit und waren damit Kulturideale, so hat sich der Mensch selbst diesen Idealen angenähert: Er ist Gott geworden. Als Ideale waren Götter Mittel, denn die Identifikation mit ihnen ermöglichte den Zivilisationsprozess. Diese Identifikation schuf unter anderem die - phantastische - Vorstellung der Abgeschlossenheit und Distanziertheit gegenüber der als bedrohlich und unkontrollierbar wahrgenommenen Natur.
Horkheimer und Adorno knüpfen an diese Überlegungen an, indem sie unter Rückgriff auf die griechische Mythologie das Entstehen des Subjekts skizzieren. Von der Ilias zur Odyssee Homers vollzieht sich jener Wandel des Körpererlebens, der das Selbst trennt vom Körper und in die Seele verlagert. Die Helden des Kampfes um Troja erleben ihren Körper fragmentiert, sie zerfallen in Körperteile, deren Wallungen eigenständig und deren Handlungen autonom erscheinen. Odysseus dagegen imponiert als Urbild des bürgerlichen Subjekts, er repräsentiert jenes Ich, das sich dem verlockenden Sirenengesang aussetzen kann, ohne sich in ihm zu verlieren. Er hat gelernt, seine Natur zu beherrschen.
Bewältigung der Todesangst durch die moderne Medizin
Die individuelle Entwicklung, beschrieben durch die Freudsche Psychoanalyse, ist die Wiederholung dieses Zivilisationsprozesses. In der psychosexuellen Entwicklung bildet sich ein Selbst, durch das sich das Individuum abgegrenzt zur Umwelt und seinen Körper abgeschlossen erleben kann. Dies ist eine durch Sozialisation schrittweise geschmiedete Verhärtung des Ichs, die ihre Wurzeln in der Identifikation mit den Eltern hat, so wie die Identifikation mit den Göttern es gestattete, als Gattung handlungsfähig zu werden.
Bleiben wir in diesem Verständnis von Subjektivität, kann hinter die historische und individuelle Entwicklung vom fragmentierten Körperselbst zum psychisch repräsentierten Ich nur um den Preis zurückgegangen werden, die Subjektivität aufzugeben. Mit dem Verlust der mühsam hergestellten Einheit droht der Verlust der Identität überhaupt und damit der Rückfall in einen Zustand, der, wenn er auch nicht mit dem körperlichen Tod identisch, so doch mit diesem assoziiert ist. Die Angst vor dem Tod ist eng verbunden mit der Angst vor dem Verlust der Subjektivität.
In der säkularisierten Gesellschaft bewältigt die Medizin diese Todesangst am Objekt des Körpers, indem sie der Hoffnung auf die Apotheose Nahrung gibt. Sie inszeniert jene Form der Utopie, die sich auf das Versprechen der Unsterblichkeit beschränkt. Paradoxerweise erreicht diese aufgeklärte Form des Umgangs mit dem Tod nun ein Niveau, in dem die Subjektivität zu verschwinden droht.
In ihrem Buch Herzloser Tod beschreiben Ulrike Baureithel und Anna Bergmann, wie der Körper der Patienten für die an den medizinischen Maßnahmen Beteiligten zerfällt, real und in der Phantasie. Nicht nur zerfällt der Mensch tatsächlich in seine Körperteile, sondern die Organe werden auch mit mythischer Bedeutung aufgeladen, die auf eine voraufgeklärte Fragmentierung von Körper und Subjekt verweist. Diese Fragmentierungen sind aber keinesfalls zu verstehen als rein individuelle Vorstellungen, sondern sie drücken einen verallgemeinerbaren gesellschaftlichen Prozess aus, der davon gekennzeichnet ist, dass die Autonomie des Subjekts gefährdet erscheint. Die Erkenntnis, dass die Gottheiten als Mittel fungieren - jener vom Menschen herbei geführte "Tod Gottes" - geht am Menschen nicht spurlos vorbei, sondern überführt ihn selbst in ein Mittel.
Selbstvergottung des Menschen
Der Aphorismus "Der Tolle Mensch" aus der Fröhlichen Wissenschaft Friedrich Nietzsches gibt diesem Konflikt ein Bild: "Der tolle Mensch" sucht auf dem Marktplatz nach Gott und befragt die umstehenden Atheisten: "Wo ist Gott?" Er beantwortet sich die Frage selbst: "Wir haben ihn getötet - ihr und ich. Wir alle sind seine Mörder!" Fassungslos vor den Konsequenzen fährt der tolle Mensch fort: "Ist nicht die Größe der Tat zu groß für uns? Müssen wir nicht selber Götter werden, um nun ihrer würdig zu erscheinen?"
Der Philosoph Christoph Türcke beschreibt, wie Gott, mit dem sich die Menschen ihre Festigkeit, ihr Sicherheitsgefühl gegeben haben, durch die Erkenntnisse der Aufklärung verschwindet. Die Aufklärung entkräftet ihren eigenen Kraftspender - und wächst in einem ungeheuren Befreiungsakt über sich hinaus. Doch eben dies raubt den Schutz und Halt von Jahrhunderten, setzt den Menschen wehrlos dem Zugriff des Lebens aus.
Eine Konsequenz dieser Entwicklung ist die Apotheose des Menschen. Das Individuum beginnt, von sich als dem höchsten Ideal zu denken. Diese Selbstvergottung äußert sich auch in der Illusion der Ahistorizität, der Ewigkeit des Individuums. Religiöse Bestimmungsversuche werden als metaphysisch denunziert. Doch der Verzicht auf jede Transzendenz des Bestehenden bedeutet auch den Verzicht auf einen moralischen Referenzpunkt außerhalb des Menschen. Für diese Selbstvergottung bestimmte Horkheimer die Kehrseite, eine Aufklärung ohne Ziel: "Die Maschine hat den Piloten angeworfen; sie rast blind in den Raum."
Das Ringen um die Einheit des Körpers
Tatsächlich ist es in der Transplantationsmedizin nicht nur das pflegende und ärztliche Personal, das die beschriebenen Fragmentierungen tagtäglich erlebt, auch für den Patienten zerfällt der Körper in eine Bedeutungslandschaft, die neu zusammenfügt werden muss. Gelingt dies nicht, gibt die Fragmentierung des Körpers Auskunft über das Verschwinden von Subjektivität unter den Bedingungen einer instrumentellen Vernunft. Auf den ersten Blick scheint es, als sei zumindest der Empfänger nicht in Gefahr, zum Mittel zu werden. Hinterrücks wird jedoch auch er, der zunächst als Zweck der Maßnahme erscheint, zum Mittel. Mit der Öffnung seines Körpers und der Durchdringung mit fremden Organen muss sich der Patient, um die Erfahrung der Transplantation auszuhalten, selber - zumindest teilweise - verdinglichen: "Das Subjekt zerlegt sich in die nach innen hin fortgesetzte Maschinerie der gesellschaftlichen Produktion" (Adorno).
Hierfür sprechen die in vielen Arbeiten beschriebenen Psychopathologien. So klagen Patienten nach einer Transplantation häufig über den Verlust des sexuellen Verlangens oder sie leiden unter Straf- oder Verfolgungsphantasien. Auch wenn die postoperative Zeit ohne pathologischen Befund verläuft, lässt sich die Erfahrung des fragmentierten Körpers empirisch bestätigen, etwa in der Wahrnehmung des Körperbildes. In der Regel werden die von der Krankheit betroffenen eigenen Körperorgane in sehr großer Distanz zum Körper erlebt, während behandlungsrelevante technische Instrumente als Teil des Körpers repräsentiert werden.
Diese erlebnishafte Abtrennung einzelner Organe kann verstanden werden als ein Ringen um die Einheit des Körpers. Mit der Verpflanzung einzelner Körperteile, die als traumatisch erlebt wird, ist häufig eine Bedrohung der psychischen Struktur verbunden, der Verlust von Subjektivität. Was ursprünglich Hilfe sein soll, wirkt auf den Patienten bedrohlich.
Problematisch sind nicht die medizinischen Maßnahmen, die Leben verlängern, sondern eine instrumentelle Ethik, die medizinisch Mögliches nur rechtfertigt. Gegenstand der Ethik muss eine inhaltliche Definition des Menschen sein, die auf Metaphysik, aber nicht auf die Transzendenz des Bestehenden verzichtet. Transzendenz bedeutet in diesem Zusammenhang, das Leiden des Menschen auf gesellschaftliche Produktion zurückzuführen und damit die Perspektive einer Veränderung zu eröffnen, anstatt es in der Theorie zu verdoppeln. Erst vor diesem Hintergrund kann eine Bewertung medizinischer Maßnahmen gelingen, die nicht nur nachträglich legitimiert, was technisch möglich wurde.
Oliver Decker ist Diplom-Psychologe und arbeitet am Universitätsklinikum Leipzig in der Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie. Er ist Herausgeber der Zeitschrift Pychoanalyse - Texte zur Sozialforschung.
Prof. Dr. Elmar Brähler ist Leiter der Selbstständigen Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie des Universitätsklinikums Leipzig. Letzte Veröffentlichung (zusammen mit Oliver Decker): Deutsche - Zehn Jahre nach der Wende, Psychosozial-Verlag 2000.
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