Rückschau In der Frankfurter Schirn beschreibt eine Ausstellung das Lebensgefühl des frühen 21. Jahrhunderts. Vorbild ist der Roman „Unendlicher Spaß“ von David Foster Wallace
Hinter einer Plexiglasscheibe: Unmengen an Konfetti, einfarbig, in Königsblau. Große Industrieventilatoren wirbeln die Luft auf. Doch die Papierschnipsel bewegen sich so gut wie nicht, träge bleiben sie am Boden liegen. Man hat den Eindruck, auf eine Landschaft zu blicken. Auf ein Meer, das eingefroren ist. Ab und zu tanzt doch mal ein Stückchen durch die Luft. Ganz zaghaft zittert der Papierberg. Betreten kann diesen Raum niemand. Tutti gìu per terra (We all fall down) hat die italienische Künstlerin Lara Favaretto ihre Installation genannt.
Ein paar Räume weiter setzt der New Yorker Künstler Peter Coffin ein Bündel Luftballons in Szene. Mit Hilfe eines Förderbands werden sie durch den Raum transportiert. Ganz langsam, träge, immer im
äge, immer im Kreis. Ein Vergnügungspark kommt einem da in den Sinn, eine Achterbahnfahrt – in Zeitlupe. Und dann erfährt man, dass es sich bei der Apparatur, die die Ballons bewegt, um ein auf den Kopf gestelltes Fördersystem aus einem Schlachthof handelt. Tierkadaver hängen hier normalerweise am Haken, keine bunten Ballons. Die Party ist vorbei? Sieht schwer danach aus.Nach 9/11Unendlicher Spaß hat Kurator Matthias Ulrich seine Ausstellung in der Frankfurter Schirn getauft, nach dem berühmten Roman von David Foster Wallace. Das Lebensgefühl des frühen 21. Jahrhunderts, die Zeit nach 9/11 will die Schau einfangen und beschreiben. Unendlicher Spaß, dieses mehr als 1000-seitige Romanlabyrinth, gilt längst als Jahrhundertwerk. 1996 ist es unter dem Titel Infinite Jest in den Vereinigten Staaten erschienen. Lange hieß es, das Buch sei nicht zu übersetzen. Ulrich Blumenbach hat sich der Aufgabe trotzdem gestellt, ganze sechs Jahre hat er für seine Arbeit am Ende gebraucht.Als Unendlicher Spaß 2009 dann schließlich auf Deutsch erschien, war David Foster Wallace schon ein Jahr lang tot. Im Alter von 46 Jahren hatte sich der Schriftsteller, der lange an Depressionen litt, der oft nur schreiben konnte, wenn er Psychopharmaka konsumierte, und der viele Jahre gegen seine Alkoholsucht gekämpft hatte, das Leben genommen. Der Autor ist heute ein Mythos. Jeffrey Eugenides, ein Weggefährte und Freund, hat ihm mit dem Roman Die Liebeshandlung ein Denkmal gesetzt.Mit Unendlicher Spaß kämpft David Foster Wallace gegen die postmoderne Ironie und Beliebigkeit, gegen den Alles-ist-möglich-Glauben – und er nutzt dafür die Mittel der postmodernen Erzählung. Das Buch ist verschachtelt, ausufernd, komisch, sarkastisch, traurig. Es spielt in einer nahen Zukunft, in einer Welt, in der die Unterhaltungsindustrie längst alle Bereiche des Lebens durchdrungen hat, in der Konzerne sich sogar Jahresnamen kaufen können – der Großteil der Handlung des Romans ist im „Jahr der Inkontinenz-Unterwäsche“ angesiedelt. Die USA, Kanada und Mexiko haben sich zur Staatengemeinschaft O.N.A.N., zur Organization of North American Nations, zusammengeschlossen. Eine Gruppe Rebellen leistet Widerstand, kämpft für ein unabhängiges Québec, verübt Terroranschläge. Sucht ist allgegenwärtig in Foster Wallaces Roman. Sucht nach Medikamenten, nach Drogen, nach Alkohol, nach Anerkennung oder Erfolg.Der Einfluss von Foster Wallace ist gewaltig, nicht nur in der Literatur. Matthias Lilienthal etwa hat zum Ende seiner Intendanz am Berliner Hebbel am Ufer 2012 aus Unendlicher Spaß einen 24-Stunden-Theatermarathon entstehen lassen – mit Performancekünstlern wie Gob Squad, She She Pop, Philippe Quesne und Richard Maxwell. Eine weitere Bühnenfassung ist in Braunschweig entstanden. Und jetzt also die bildende Kunst. Welche Verbindung nimmt sie zu dem Schlüsselwerk auf? Der Bezug der Werke in der Ausstellung zu Unendlicher Spaß ist selten offensichtlich, selten direkt.Eine Nähe zu einem wichtigen Sujet des Romans findet man bei Claire Fontaine. Hinter der Kunstfigur verbirgt sich das Duo Fulvia Carnevale und James Thornhill. Den Boden des Ausstellungsraums haben sie mit Tennisbällen übersät. Tennis ist ein Leitmotiv in Unendlicher Spaß. Der Roman spielt großteils an der Enfield Tennis Academy, nicht selten verliert sich der Autor in detailverliebten Schilderungen von Turnieren. Die Bälle, die Claire Fontaine auf dem Boden verteilt haben, sind aufgeschlitzt. In ihnen stecken kleine Dinge: eine Tube Zahnpasta, ein Lippenstift, ein Mobiltelefon. In den USA ist es üblich, dass man Inhaftierte mit dem Nötigsten versorgt, indem man es ihnen in Tennisbällen über die Gefängnismauer zuwirft. Auf einem Podest zwischen den Bällen befindet sich ein Kugelstoßpendel, dessen Boden ein Tennisplatzmuster ziert. Das Pendel ist ein Objet trouvé, ein Werbegeschenk von Lehman Brothers. Ein schlagkräftiges Zusammenspiel verspricht es den Kunden der Investmentbank. Ausgelöst hat die Bank dann aber bekanntlich mit ihrem Zusammenbruch im September 2008 die globale Finanzkrise.Zwei lilafarbene Plastikhandschuhe, die sich um die eigene Achse drehen, stellt der albanische Künstler Anri Sala aus. Title Suspended heißt seine Skulptur. Man kann lange vor der Arbeit verweilen und darauf warten, dass die beiden Finger sich endlich berühren. Doch diese Erlösung liefert Sala nicht. Beharrlich drehen sich die Hände weiter. Die Spannung wird gehalten – in Endlosschleife. Das Dauerfeuer der Erregung durchzieht auch Foster Wallaces Roman. Die frankokanadischen Separatisten sind darin auf der Suche nach dem Masterband des Films Unendlicher Spaß, dem letzten Werk des Regisseurs James O. Incandenza, dem Stifter der Enfield Tennis Academy. Wer diesen Film sieht, wird wieder zum Kind, will ihn immer wieder gucken. In ihrem Kampf gegen die von der Unterhaltungsindustrie vollkommen absorbierten Amerikaner planen die Rebellen, diesen Film als Waffe einzusetzen.Vieles, was man in der Ausstellung sieht, trägt gespenstische Züge, ist verstörend. Der geklonte Kopf des Künstlers Maurizio Cattelan blickt einen in hundertfacher Ausfertigung von einer Wand aus an. Andrea Fraser zeigt in einer Videoinstallation das Reenactment einer Therapiesitzung und spielt darin nicht nur sich selbst, sondern auch ihre eigene Psychoanalytikerin. Der amerikanische Künstler Josh Kline reanimiert den gescheiterten Popstar Whitney Houston in seiner Videoarbeit Forever 48. Darin projiziert Kline das Gesicht der toten Sängerin über das einer Schauspielerin. In einer fiktiven Nachmittagstalkshow lauscht man nun ihren Phrasen oder sieht ihr zu, wie sie einen Gemüsecocktail zu sich nimmt. Der Wunsch nach Selbstoptimierung grassiert schon seit einiger Zeit nicht mehr nur unter Stars. Die Kontrolle des Körpers durch Disziplin, Gesundheitsdrinks und Tabletten ist zum Normalfall geworden.„Fuck the police“Es ist ein düsteres, ein melancholisches Bild vom Beginn des 21. Jahrhunderts, das die Ausstellung zeichnet. Ein Bild der Ohnmacht. Besonders deutlich machen dies Judith Hopfs erschöpfte Vasen, bemalt mit traurigen Strichmännchengesichtern, die den amerikanischen Zeichner Saul Steinberg zitieren. Oder die Grafiken des Belgiers Kris Martin, die seinen immer blasser werdenden Fingerabdruck zeigen – ein einfaches, aber starkes Bild für Verlust und Verschwinden. Resignativ wirken in dieser Reihe dann auch die Malereien von Daniel Richter, darunter das Bild Lonely Old Slogan, das die Hamburger Band Die Goldenen Zitronen 2006 als Cover für ihr Album Lenin ausgewählt hat. Das Original in Öl wiederum gehört dem bekannten Sammler Harald Falckenberg. Lonely Old Slogan zeigt in Schwarzweiß die Rückenansicht eines Mannes. Auf seiner Lederjacke liest man die Worte „Fuck the police“. Der Widerstandsslogan ist zur reinen Geste verpufft, wirkt verbraucht, wie aus der Zeit gefallen. Ein Gefühl von Euphorie will sich in dieser Ausstellung nirgends einstellen.Aber trifft dieser Pessimismus die Wirklichkeit? Mangelt es unserer Gegenwart tatsächlich so an Alternativen und Hoffnungen? Oder gibt es nicht doch auch Aufbrüche? Ein Aufbegehren etwa gegen den Selbstoptimierungswahn lässt sich mehr und mehr spüren. Die „Generation Y“ hinterfragt – noch recht still und zurückhaltend – das klassische Karrieremodell. Und mit der Weltwirtschaftskrise ist parallel auch eine neue globale Protestkultur entstanden. All diese Entwicklungen finden in der Schirn-Ausstellung keinen Widerhall. Ein Bruch aber, ein winziger utopischer Ausblick, hätte ihr noch gut getan.
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