Es gab in den letzten Jahren nur wenige bis gar keine Momente, in denen ich den Künstlernamen Udo Jürgens in den Mund genommen habe. Kein Wunder – seitdem ich hauptsächlich auf elektronischer Musik und HipHop unterwegs bin, spielt Udo Jürgens keine Rolle mehr. Davor auch nicht: Da gab es Indie, Egotronic, Ska-Punk und die Arctic Monkeys. Davor wieder HipHop und dann waren da irgendwo die Schlümpfe. Zack, sind wir im jüngsten Grundschulalter und den Mittneunzigern angekommen: Benedikt kommt von der Schule, dreckige Hose, strohblonder Topfschnitt. Und bevor es mit den Hausaufgaben losgeht (die wurden von Beginn an gehasst), wird erstmal Udo Jürgens in die DENON-Anlage meiner Eltern geschoben. Es ist genau das Alter, in denen die musikalische Sozialisation zu neunzig Prozent über die Eltern stattfindet. Klar darf man schon allein bestimmen, was man hören möchte, sofern es die elterlichen Nerven zulassen, allerdings kommt nur ein Frage, was das heimische Plattenregal hergibt. Bei Anderen mögen das Jimi Hendrix, die Beatles und Pink Floyd gewesen sein, bei mir waren es eben PUR („Wo sind all die Indianer hin?“) und Udo Jürgens. Mir war das doch egal.
Die damals durch lauten Mitgesang gelernten Texte werde ich niemals wieder los. Muss ich aber auch gar nicht, denn es sind meine einstigen Lieblingslieder, die Udo Jürgens bis heute für mich zu einem ganz besonderen Künstler machen. Diese ganzen Mädels in den Liedern, Rosemarie, Mathilda, Anuschka und Angela, haben mich – anders als Eltern und Bekannte – nicht interessiert. Ich kannte keine Rosemarie und auch keine Mathilda oder Anuschka. Angela fand ich doof. Ich wollte Geschichten hören (für die das Verständnis erst später kam) und dazu auf dem Teppich grooven, ich muss so knapp 1,3m groß gewesen sein. Und welche Songs waren das nun? Es waren zu großen Teilen die kritischen Texte, die Songs zum Zustand der Welt, mit denen die Alben zwischen Liebe und Kitsch garniert wurden. Mitunter fand Udo Jürgens ähnlich scharfe Worte wie ein Georg Kreisler, was ich damals natürlich nicht wusste. Ich war trotzdem ein Experte in der Udo Jürgens Welt: Auf „Treibjagd“ (1985) mochte ich Lied 2 („Partisanen“) und Lied 8 („Treibjagd“), auf „Gestern-Heute-Morgen“ (1996) waren es Lied 2 („Tausend Jahre sind ein Tag“) und Lied 14 („Gefeuert“). Damals habe ich die Songs in der Regel nicht beim Namen genannt, wusste aber trotzdem, wo sie sich befinden. Ein Kinderkopf funktioniert anders. „5 Minuten vor 12“ und „Gehet hin und vermehret euch“ liefen auch ständig. Ersteres konnte ich als Fan der Serie „Als die Tiere den Wald verließen“ schon ein bisschen begreifen, beim zweiten Track half die Audioansage am Anfang. Ich war aber vor allem gepackt von der cineastischen Dramatik des Songs. Auch „Zwischen Böse und Gut“ wurde immer richtig laut aufgedreht. Mein absoluter Lieblingssong allerdings – und das bis heute: „Ein ehrenwertes Haus.“ Was für ein Hit! Hausbesetzermusik als Light-Version.
Mit dem Älterwerden und den ersten selbstständigen Schritten im Labyrinth der musikalischen Selbstfindung ließ ich Udo Jürgens hinter mir. Viele Jahre später, mit den ersten Partyexzessen, linker Denke, Fleischverweigerung und Egotronic auf den Ohren, musste ich mir des Öfteren den Spruch von meinem Vater anhören: „Benne, das hast du nicht von uns.“ Ich antworte: „Doch Papa. Ihr habt mir den Samen des Punkrock ins kleinbürgerlich sozialisiertes Köpfchen gepflanzt: Mit Udo Jürgens.“
Der Punkrock des Kleinbürgers

Foto: Keystone/Hulton Archive/Getty Images
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Kommentare 20
In diesen Tagen denkt jeder zurück
Nein. So wichtig war er nicht. Dann eher schon an Joe Cocker.
Mit Punkrock würde ich ihn nicht vergleichen. Eher mit dem, was in Deutschland nach ’45 gefehlt hat – einer Art aufgeklärtem, mondänen, chansonhaften Schlager in der Art der Früh-Dreißiger, wie die Comedian Harmonists etwas. Andere Länder hatten es da besser – weder einen den Nazis vergleichbaren Zivilisationsbruch noch die besonders biedermeierliche, staats- und obrigkeitsfixierte Mentalitätsgeschichte der Deutschen allgemein. Frankreich beispielsweise startete nach 1945 mit Piaf, Aznavour und Monsieur 100.000 Volt. Für die Intellektuellen gab es Brel, Gréco und Jazz; alles zusammen mündete ohne »existenzielle« Brüche in die Swinging Sixties mit Bardot, Hardy und Gainsbourg. In Deutschland gab es lediglich drei aus der Liga: Jürgens, Knef und vielleicht noch Alexandra (plus zwei, drei Dutzend, die nicht ganz so schlimm waren wie der Rest). Mondänes Bürgertum – in Deutschland bedeutete das immer auch: Elite. Und nie: Kleinbürgertum, zumindest tendenziell also: alle.
So viel zu Jürgens. Trotzdem muß ich Lethe zustimmen: Ungeachtet von meinem Geburtstagsartikel ging mir Cocker näher.
"Der Samen des Punkrock..." - sehr lecker.
Udo Jürgens hat seinen Antrieb im Pathos der Rückschau ganz gut auf die Note gebracht mit "Bis ans Ende meiner Lieder":
https://www.youtube.com/watch?v=gx-aK54U7Fg&app=desktop
Die Jürgens'sche Dauerpräsenz über rund fünfzig Jahre hat sicher viel zu einem bleibenden kollektiven Eindruck beigetragen. Aber den Eindruck kann ich als musikalischer Normalverbraucher bei mir nicht leugnen. Bei Liedern - deutsch- und anderssprachig - fällt mir erstmal Udo Jürgens ein, und dann eine ganze Weile gar nichts mehr.
Cocker war von der Stimme her wesentlich spektakulärer, aber er hat nie selbst ein Lied geschrieben geschweige denn ein selbst verfasstes Lied gesungen.
Insofern war Jürgens schon der größere Musiker.
Dank sei ihm vor allem für seine Aufmüpf-Songs. Da hat er doch tatsächlich ein wenig Salz in die Plüschsofa-Suppe getan.
Zenzi
"seinen Antrieb im Pathos der Rückschau ganz gut auf die Note gebracht"
Dank für diese Formulierung und den Link auf ein darauf passendes Lied, ich kannte es nicht.
Udo Jürgens hat es geschafft, uns Spießbürger mit einem Spiegel zu versehen, in dem wir manchmal gesehen haben, dass wir rot werden, wenn wir unsere schiefe Moral vor die Ohren gesungen bekamen.
Wer mit 80 noch in der O2-Halle in Berlin die faulen Stellen der Gesellschaft benennt und sich dazu im Konzert 10 geschlagene Minuten Zeit nimmt - und dafür noch Applaus erhält, bevor er den nächsten Song anstimmt . kann so falsch nicht sein, oder?
Punkrock?
Eher der epigonenhafte Versuch, Durchhalte-U-Musike fürs System zu plärren, in der Tradition von Zara Leander und Heinz Rühmann; Heinz Erhard Wirtschaftswunderfilmchen und Hazy Osterwald Sextett .
Vmtl soll hier die Rede sein von einem Schlagersänger, der auch Chansons gebaut hat.
Genreüberschreitung kann funktionieren, muss es aber nicht.
Bei UJ scheint sie funktioniert zu haben.
ps: http://www.myvideo.de/watch/7473032/Hazy_Osterwald_Sextett_Konjunktur_Cha_Cha
Schlecht geschlafen?
"Benne", das habt Ihr wirklich schön geschrieben.
"Benne", das habt Ihr wirklich schön geschrieben.
Ja, wirklich sehr schön:-)
Ich denke an die Individualität des Menschen in seinen Ausdrucksmöglichkeiten, da ist mir schnurz ob Joe Cocker der "bessere" Sänger und Udo Jürgens der "größere Musiker" war. Beide stehen auch bei mir für eine Jugendzeit, in der ich den Joe quasi anhimmelte und den Udo komplett meinen Eltern überließ. 35 Jahre später wird mir die Endlichkeit des Daseins bewusster mit dem Tod von Jack Bruce, nun Joe Cocker, zwischendrin der Gitarrist von Slayer und sicher einige nicht genannte Künstler. Und Udo Jürgens. Alle verbindet im Laufe ihres Schaffens sowohl die Schnulze wie das textlich tiefgründigere Liedgut. Ich singe selber seit über 30 Jahren mal eigen Sachen, öfters nach. Und ohne spirituell klingen zu wollen. Singen ist auf die eine wie die andere Art eine Heilung deiner selbst. Die Intension wie Intonation scheint entscheidend. Und Talent. Und dies alles ist wahrnehm- wie spürbar.
Gott segne seine Seele.
Von seiner Sorte gibt es nicht viele in deutschsprachigen Raum.
@GEBE
Mit Verlaub, Sie spinnen :-)!
"Durchhalte-U-Musike fürs System"...es kommt mir vor, Sie lebten in einer anderen Welt, anderen Zeit...interessant wär dann wohl, was Sie denn so verbittert gemacht hat?
Frohe Weihnachten!
Zwei Dinge sind wichtig bei Jürgens:
1. Zumindest ich habe nie gehört, dass eine seiner Tourneen auf Grund von "Formschwäche" abgesagt werden musste. Auch habe ich nie gehört, dass irgendein Konzert von ihm völlig in die Hose gegangen ist. Stets: perfekte Darbietung - dazu ohne technischen Schnickschnack, es wurde live gesungen und live musiziert. Auch mit grossem Orchester.
2. Völlig unbemerkt geblieben ist ein ganz anderer Aspekt: mit Udo Jürgens hat sich der letzte authentische Big-Band-Star in die Ewigen Jagdgründe verabschiedet. Udo Jürgens war ein begeisterter und erklärter Big-Band-Musiker. Und die Musik? Alles selber geschrieben, alles selber und exklusiv für die Pepe Lienhard-Band - deren eigentlicher Boss Udo Jürgens war, Lienhard war nur eine Art Konzertmeister und musikalischer Direktor - arrangiert. Was für eine Arbeit! Aber es hat sich gelohnt.
Das lag daran, dass Franz-Josef Degenhardt und Georg Kreisler viel zu grosse Netzbeschmutzer waren... Rein textlich gesehen waren beide mit Jürgens nicht zu vergleichen. Daraus hat Jürgens allerdings niemals ein Hehl gemacht und sich stets vor dem bitterbösen Wiener Grantler Kreisler zutiefst verneigt.
Wenn in einer Woche Udo Jürgens, Joe Cocker und Fritz Rudolf Fries sterben, hätte im alten Freitag der Aufmacher Fritz Rudolf Fries gegolten, einem der bedeutendsten deutschsprachigen Schriftsteller und Übersetzer der vergangenen Jahrzehnte. Daran ändert die bedauerliche Tatsache, dass er IM war, ebenso wenig wie die Zugehörigkeit von Günter Grass zur Waffen-SS an dessen Bedeutung. (Im Übrigen ist mir die politische Entwicklung von Grass - gegen den Strom - tausendmal sympathischer als die häufigere hin zum Einverständnis mit dem Status quo.) Im heutigen Freitag steht Udo Jürgens ganz vorne, vor Fries und auch vor Joe Cocker, genau wie in allen Medien, BILD eingeschlossen. Deutlicher konnte die Veränderung des Freitag nicht dokumentiert werden. der Freitag ist der Kretschmann der Zeitungslandschaft.
Ich fand seine Lieder Ende der 60er Jahre am Besten.
"Immer wieder geht die Sonne auf", "Was wirklich zählt", Illusionen (das seine Freundin Alexandra gesungen hat), sein Lied "Lieb Vaterland" durfte im Radio nur vokal erscheinen.
Er hat ja auch schon damals den Zeitgeist bedient.
Anfang der 70er Jahre wurde es ruhiger um ihn. Auf der einen Seite kamen verstärkt Interpreten, die den Schlagermarkt bedienten, auf der anderen Seite begann die große Zeit der Liedermacher, sodaß er irgendwie dazwischen stand.
Sein Comeback war 1975 mit "Griechischer Wein"