Der Reiz des Offenen

Thüringen Eine Minderheitsregierung könnte zum Vorbild für andere Bundesländer werden
Ausgabe 03/2020
Kommt die Minderheitsregierung in Thüringen, wird es wohl öfter spannend im Parlament
Kommt die Minderheitsregierung in Thüringen, wird es wohl öfter spannend im Parlament

Foto: Jacob Schröter/Imago Images

Die Gelegenheit, einen FDP-Politiker zu loben, bietet sich nicht so oft, dass man sie verpassen sollte. Das Kompliment gilt einem gewissen Thomas Kemmerich, Partei- und Fraktionschef der Freien Demokraten in Thüringen. Er hat an eine fast vergessene Selbstverständlichkeit erinnert: „Ort der Diskussion ist das Parlament.“ Geht alles gut, könnte der Erfurter Landtag vorführen, wie aus diesem Prinzip wieder Wirklichkeit wird.

Das wäre der Reiz der Minderheitsregierung, wie sie Linke, SPD und Grüne in Thüringen bilden wollen: Sie kann in Koalitionsrunden und Spitzentreffen hinter verschlossenen Türen vereinbaren, was sie will – für die Mehrheit braucht sie Stimmen aus der Opposition. In diesem Fall von der CDU und/oder der FDP, lässt man die AfD aus allerbesten Gründen weiter außen vor. Richtig genutzt, könnte diese Situation zu einer Wiederbelebung des demokratischen Diskurses führen. Und damit hätte sie das Zeug zum Modell, nicht zuletzt auch für den Bund. Noch hat ja in Berlin kaum jemand begriffen, was Thüringens linker Ministerpräsident wenigstens unter dem Druck der Mehrheits- beziehungsweise Minderheitsverhältnisse verstanden hat: Das Erstarken der AfD und die Schwindsucht der Volksparteien wird dafür sorgen, dass Minderheitsregierungen zur gängigen Praxis werden – es sei denn, man würfelt ohne Rücksicht auf politische Richtungsunterschiede eine Mehrheitsregierung aus allem zusammen, was nicht rechtzeitig das Weite sucht.

Dass die Entscheidungsfindung wieder in den öffentlichen Raum des Parlaments verlagert wird, könnte sogar zum Zurückdrängen der AfD beitragen. Würde in den Debatten dort mit offenem Ausgang gerungen, statt vorgefertigte Beschlüsse der Regierungsfraktionen abzunicken, könnten auch die unterschiedlichen Ausgangspositionen wieder deutlicher werden. Das wäre ein schlagendes Argument gegen die Behauptung der extremen Rechten, die „Systemparteien“ seien eh alle gleich.

Das setzt aber eines voraus: Zu einer Art themenbezogener Koalition zwischen Regierung und Opposition darf es nicht kommen. Sollte sie am Ende das Ergebnis von Gesprächen zwischen Linkspartei und CDU sein, wäre der Reiz des Offenen schon halb wieder verflogen. Es käme so etwas Ähnliches heraus wie in Österreich, wenn auch nicht als formelle Koalition: Unter dem Vorwand, jeder Partner brauche Raum für eigene Projekte, haben dort die Grünen ihre liberale Flüchtlingspolitik im Tausch gegen mehr Klimaschutz verkauft. Wenn so das Vorbild aussieht, können Linke und CDU auch gleich koalieren.

Zum Modell wird eine Minderheitsregierung in Erfurt, wenn sie die eigene Politik zur Diskussion stellt, ohne im vorparlamentarischen Raum schon einen Handel mit der Opposition abzuschließen. Wer davor warnt, Rot-Rot-Grün liefe dann Gefahr, Gesetze mit Stimmen der AfD zu beschließen, muss ehrlicherweise hinzufügen: Auch CDU und FDP müssten sehr genau überlegen, ob sie sich mit der AfD zu einem Neinsager-Block formieren wollen.

Natürlich stünden am Ende der parlamentarischen Auseinandersetzung oft Kompromisse. Sie sähen vielleicht sogar denen ähnlich, die auch eine Koalition im Stillen ausgehandelt hätte. Aber es ist ein großer Unterschied, ob vor der Einigung eine offene und öffentliche Auseinandersetzung zwischen klar unterscheidbaren Ausgangspositionen steht oder nicht. Was die dringend notwendige Profilierung der Parteien im „linken Lager“ betrifft, wäre es sogar ein Unterschied ums Ganze.

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