Die „digitale Gesellschaft“ ist allgegenwärtig. Daran besteht kein Zweifel: Sie offenbart sich nicht zuletzt darin, wie selbstverständlich wir mit „smarten“ Mobiltelefonen, Tablet-Computern oder vernetztem Fernsehen umgehen. Sie konkretisiert sich in der Digitalisierung des Handels, der öffentlichen Verwaltung, des Bildungswesens. Und sie wird gespiegelt durch hitzige Debatten: Google Street View, „Datenkrake“ Facebook, NSA. Doch um die Tragweite der Digitalisierung zu verstehen, müssen wir viel grundsätzlicher, viel radikaler als bisher die Durchdringung unserer Gesellschaft mit digitaler Medienkommunikation zu verstehen versuchen.
Bislang sind wir es gewohnt, den Diskurs von einem einzelnen Medium aus zu denken: Mal steht das Fernsehen im Mittelpunkt, mal die vermeintliche Wirkung von Computerspielen und neuerdings die Omnipräsenz des Smartphones. Doch diese Fixierung führt in die Irre. Die eigentlichen Veränderungen sind vielschichtiger und fundamentaler: Wie wir unsere Welt und unsere Gesellschaft sehen, wie wir sie unseren Kindern vermitteln, ist umfassend mediatisiert und digitalisiert: Den „blauen Planeten“ kennen wir als Bild nur über die Medien. Und nun dreht er sich dank Google Earth vor unseren Augen. Von A nach B fahren wir mit digitalen Routenplanern. Und wenn wir wissen wollen, ob es am Zielort regnet, fragen wir die Wetter-App.
Wie wir vernetzt werden
Die Wirtschaft setzt global auf netzbasierte Online-Börsen und digitale Geschäftsfelder wie E-Commerce, Apps und Social Media. Aber auch unsere Lebensgemeinschaften und Familien sind durchzogen von digitaler Mediennutzung – vor allem bei der Organisation unserer Beziehungen durch Plattformen wie Facebook und Kommunikationswerkzeuge wie Whatsapp oder Threema. Zusätzlich dokumentieren wir mit einer Unzahl von Digitalfotos und -videos unser Leben und teilen sie weltweit mit unseren Freunden und „Freunden“. Aber auch in der öffentlichen Verwaltung, den Schulen und Universitäten werden die Veränderungen nicht nur von einem Medium angestoßen. Es sind Veränderungen, die darin bestehen, dass sich Medien als grundlegende Struktur und Voraussetzung für alle Bereiche der Gesellschaft „einschleichen“.
Doch die digitale Gesellschaft ist nicht einfach eine „Gesellschaft des World Wide Web“. Es geht um Polymedialität und Transmedialität. Anders gesagt: Unser Alltag wird sowohl über (sich verändernde) „alte“ Medien als auch über „neue“ geprägt, gestaltet und gelebt. Was früher auch ohne Medien denkbar war, läuft heute wie selbstverständlich, häufig auch zwingend mediengestützt. Und so prägen Medientechnologien gesellschaftliche Strukturen, kulturelle Praktiken und damit auch die Voraussetzungen sozialen Handelns. Kurzum: Unsere Gesellschaft ist nicht mehr ohne den mächtigen Einfluss einer Vielzahl von Medien vorstellbar – eine Entwicklung, die sich durch die Digitalisierung immens beschleunigt hat.
Noch verhindert die vereinfachende Fixierung der öffentlichen Diskussion auf das Internet, dass wir uns Gedanken über diese viel grundsätzlichere, folgenreiche Veränderung machen: Mit den wachsenden Einflüssen von Medien verändert sich das, was wir als „kommunikative Konstruktion“ der Gesellschaft bezeichnen können. Letztlich war über Jahrhunderte hinweg die direkte Kommunikation das entscheidende Element, über das wir Gesellschaft hergestellt haben. Heute zeigt sich deutlicher denn je, dass die sich verändernden Kommunikationstechnologien – angefangen mit dem Telefon – auch das direkte Gespräch verändern: Wie handeln wir, wenn wir annehmen müssen, dass auch beim direkten Gespräch vielfältige andere Menschen mittels Medien(überwachung) fortwährend „anwesend“ sein können? Und fällt es uns überhaupt auf, wie sich unsere Gesprächskultur und unser Gesprächsstoff implizit mit der Form und Leistung der Kommunikationsmedien (über Handy, Twitter, Skype) verändern? Ein Bewusstsein für diese Einflüsse könnte uns dabei helfen, die unweigerlich ablaufenden Prozesse der Einflussnahme aktiv zu gestalten.
Angesichts der aktuellen Entwicklungen in den Technologielaboren (und dessen, was bereits jetzt von Unternehmen auf den Markt gebracht wird) steht uns bereits ein weiterer Schub der Mediatisierung unseres Lebens bevor: das vernetzte „Intelligent-Werden“ unserer Umgebung. Wir sollten hier nicht das Science-Fiction-Bild des Roboters im Kopf haben, der wie ein Diener sämtliche Tätigkeiten im Haushalt erledigt. Apples „Health Kit“ und „Home Kit“ beispielsweise stehen für etwas anderes: Im ersten Fall geht es darum, unsere Kommunikationsgeräte mit unseren Fitnessgeräten zu verknüpfen. Im zweiten Fall sollen sie mit den verschiedenen Apparaten zu Hause verbunden werden. Der nächste Schritt sind dann Arbeitsplatz und öffentliche Gebäude. Die Speicherung individueller (Gesundheits-)Daten über Smartphones und andere digitale Endgeräte ist schließlich für viele längst Alltag. Je vielgliedriger der private und der öffentliche Raum durch digitale Medientechnologien zu „intelligenten Umgebungen“ werden, desto nachdrücklicher werden gesellschaftliche Konventionen und Gesetze herausgefordert.
Bemerkenswert an der Durchdringung unseres Lebens mit vielfältigen Medien ist allerdings, dass solche Veränderungen auf lange Sicht kein Phänomen der Bessergestellten, Gebildeten und Reichen sind. Auch die Haushalte von sozial weniger gut gestellten Bevölkerungsteilen sind umfassend mit Medien durchdrungen. In der Tendenz: Je jünger die Menschen sind, umso mehr, über alle Schichten hinweg.
Was ist die Konsequenz? Die Diskussion über den Einfluss einzelner Medien bringt uns nicht weiter. Es wandeln sich nicht einfach die Medien, sondern die verschiedenen Bezüge, in denen wir leben und uns verständigen. Diese „kommunikativen Figurationen“ kennzeichnen sowohl unsere Beziehungen als auch ganze gesellschaftliche Felder wie Bildung, Politik, Wirtschaft, Recht, Religion und so weiter: Indem Mediatisierung und Digitalisierung unsere Kommunikation ändern, transformieren sie nahezu unbemerkt die Grundfesten der Gesellschaft.Charakteristischerweise bilden sich diese kommunikativen Figurationen mehr und mehr medienübergreifend heraus. Massenmedien, „soziale Medien“, Mobilkommunikation, digitale Verwaltung, digitales Zuhause – alles greift ineinander. So entsteht eine Gesellschaft, die sich von allen bisher dagewesenen unterscheidet – eben in der Art und Weise, wie sie mittels Kommunikation konstruiert wird.
Warum wir konsumieren
Unser Erleben ist vielgestaltiger und reicher an Optionen. Gleichzeitig wird es aber auch mittelbarer, weniger direkt, auch wenn die medialen Hilfsmittel dies zu verschleiern suchen. Ob wir das als Gewinn von Handlungsfreiheit empfinden oder als negative Beschleunigung und Entfremdung, dürfte für verschiedene Menschen und Altersgruppen sehr unterschiedlich sein. Womöglich wird unser Leben leichter. Aber gleichzeitig entstehen mithilfe von Medientechnologien auch immer längere Handlungsketten und vielschichtigere Handlungsmuster, die wir in unserem Alltag nur schwer überblicken. Kurzum: Wir sind in immer komplexere kommunikative Figurationen eingebettet. Dieser Prozess sorgt dafür, dass die verschiedensten Bereiche unserer Gesellschaft „umgebaut“ werden. Unter der Oberfläche verändern wir damit allesamt gemeinsam – bewusst und unbewusst – unsere Gesellschaft, die eine stabile Fortexistenz ohne technische Kommunikationsmedien nicht mehr zulässt.
Deshalb sollten wir unser eigenes Medienhandeln reflektieren, aber auch unbequeme Fragen stellen – beispielsweise nach dem Umgang mit der kaum noch überschaubaren Datenmenge, die jeder einzelne Bürger in unserer mediatisierten Gesellschaft produziert. Durch eine solche Diskussion können wir zum Beispiel besser verstehen, wie und warum wir als Konsumenten welche Angebote nutzen, wie wir mit digitalen Medien besser lernen und uns besser informieren können, wie sich die Voraussetzungen von Politik ändern, oder auch wie eine Software unser Verhalten und Denken verändert. Die wichtigste Frage betrifft ohnehin alle Bevölkerungskreise: Wie soll eine digitale Gesellschaft aussehen, in der wir leben wollen? Immerhin: Nie zuvor war es möglich, auf breiter Basis so offen und zugleich konkret miteinander ins Gespräch zu kommen – den digitalen Medientechnologien sei Dank.
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Wissenschaftsjahr 2014
Das Projekt „Wissenschaftsjahr“ gibt es seit dem Jahr 2000. Ausgerichtet wird es im Rahmen der Initiative „Wissenschaft im Dialog” des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF). Thema dieses Jahres ist „Die digitale Gesellschaft“. Ausgangspunkt des „Wissenschaftsjahrs“ war ein Memorandum deutscher Wissenschaftsorganisationen, den Dialog mit der Öffentlichkeit zu verstärken. Das Memorandum ging auf eine Initiative des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft zurück und wurde 1999 gemeinsam mit anderen Institutionen veröffentlicht. Es war Grundlage für die Gründung von „Wissenschaft im Dialog“ und die Ausrufung der Wissenschaftsjahre. Nach „Forschung für unsere Gesundheit“ (2011), „Zukunftsprojekt Erde“ (2012) und „Die demografische Chance“ (2013) fragt das Wissenschaftsjahr 2014, wie die Digitalisierung den Einzelnen und die Gesellschaft verändert. Mehr auf digital-ist.de
Leif Kramp und Andreas Hepp arbeiten am Zentrum für Medien-, Kommunikations- und Informationsforschung der Uni Bremen: Kramp als Forschungskoordinator und Hepp als Professor für Kommunikations- und Medienwissenschaft
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