Der Schandfleck

Dokufiktion Welche Ehre soll das sein? Sherry Hormann spürt dem Mord an Hatun Sürücü nach
Ausgabe 19/2019

Da ist das Problem der Plausibilität. Eine Familienehre, die „beschädigt“ wird: nicht nachvollziehbar. Dass diese „Schädigung“ darin besteht, das Leben nach eigenen Regeln zu gestalten, sich nicht von einem Mann schlagen zu lassen, eigenes Geld zu verdienen, zu lieben, wenn man lieben will: nicht nachvollziehbar. Die Frau, die so lebt, die Schwester, die Tochter lieber tot, als „zur Schande geworden“ zu sehen: nicht nachvollziehbar. Und erst recht nicht nachvollziehbar: sie dann zu töten.

Das Plausibilitätsproblem begleitet den Fall des sogenannten Ehrenmordes an Hatun Sürücü von Anfang an, und es ist die Basis für Sherry Hormanns von Sandra Maischberger produzierte, fiktional-dokumentarische Kinoadaption. Doch Almila Bagriacik als Aynur, wie Hatun genannt wurde, hilft aus dem Off, genauer: aus dem Jenseits dabei, zu verstehen, was Aynurs Familie umtreibt.

„Das könnte ich sein“, sagt ihre Stimme, während die agile Kamera von Judith Kaufmann in Kreuzberg um junge Frauen kreist, „oder das. Aber nein“, fährt sie zu Archivbildern des mit einer Plane bedeckten Leichnam Aynurs fort, „das bin ich“. Drei Kopfschüsse töteten 2005 die 23-jährige Berlinerin, abgegeben wurden sie vom jüngsten ihrer fünf Brüder. Ein mittlerweile vierter Prozess in dem Mordfall, der zweite vor einem türkischen Gericht, steht zur Zeit noch an – er soll abschließend klären, wie tief zwei weitere Brüder verwickelt waren. Aynur hinterließ ihren damals sechsjährigen Sohn Can.

Es gibt viele Fallstricke, Schwierigkeiten, Komplexitäten in der Geschichte Aynurs. Hormann und ihr Drehbuchautor Florian Oeller begegnen ihnen mit Struktur und mit Bestimmtheit. Aus dem Off lassen sie Aynur die vom BKA aufgelisteten Todsünden vorlesen, derer sich eine Frau nach sunnitisch-religiöser Lesart schuldig machen kann. „Zur Schande werden“, erklärt Aynur lakonisch, „diese Todsünde kann bei uns nur ein Geschlecht begehen“.

Dass die verstorbene Aynur durch den Kunstgriff der Off-Erzählerin wieder eine Stimme bekommt, so dass sie ihr Schicksal selbst kommentieren kann, passt zu der mutigen Frau. Wie stark sie sich gegen die durch ein extremes Religionsverständnis bedingte Misogynie ihrer Familie wehrte, wird in Hormanns chronologischer Erzählung deutlich: Zunächst muss Aynur in der Türkei ihren gewalttätigen Cousin heiraten, schwanger flieht sie zurück nach Berlin. Die beengte Wohnsituation nach der Geburt des Sohnes und das frauenverachtende Verhalten ihrer Brüder, das in einem sexuellen Übergriff gipfelt, lassen sie in ein Wohnheim ziehen. Sie schließt die Schule ab, absolviert eine Lehre zur Elektroinstallateurin, lernt einen deutschen Mann kennen. Und schreibt ihre Familie, für die sie ein Schandfleck ist, dennoch nicht ganz ab.

Frauen als Besitz

„Als er drei war, konnte er nicht einschlafen, ohne meine Hand zu halten“, sagt Aynur im Film gutmütig über ihren späteren Mörder. Da wurde sie gerade gewarnt, dass ihr Verhalten Konsequenzen haben wird. Doch selbstverständlich, so erzählt es der Film, vermutet Aynur nicht, dass es einen Mord geben wird, dass die Liebe, die innerhalb der Familie empfunden wurde, gegenüber der „Ehre“ irrelevant ist. Denn so etwas ist nicht erklärbar.

Hormanns Version des Dramas, das eine grässlich aktuelle, gesellschaftliche Debatte anstieß, geht so weit, wie es möglich ist. Dahin, wo es den Beteiligten, und denen, die ein solches Denken gutheißen oder praktizieren, hoffentlich weh tut, wenn sie diesen Film schauen – wenn. Obwohl auch dabei wieder das Plausibilitätsproblem greift: Wenn Frauen der Besitz von Männern wären, und eine durch ihr Verhalten beeinflussbare Ehre der Familie wichtiger als ihr Glück ist, wieso sollte man sie dann nicht nach Gusto bestrafen?

„Ihr versteht uns ja nicht, weder unsere Kultur noch unsere Sprache“, das sagt die Film-Aynur den Zuschauern aus dem Off, ganz am Anfang ihrer Geschichte. Später wird klar, dass auch sie „ihre“ Kultur nicht versteht. Denn jemanden umzubringen, weil er sich unmenschlichen Regeln nicht unterordnen will – das ist jenseits dessen, was ein Mensch verstehen kann.

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Nur eine Frau Sherry Hormann Deutschland 2019, 90 Minuten

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