Der Schlüssel

Kehrseite Ich halte ihn ganz, ganz fest in meiner Hand, meine Finger umschließen ihn wie einen Schatz - deinen Wohnungsschlüssel. In dem Moment, als du ihn mir ...

Ich halte ihn ganz, ganz fest in meiner Hand, meine Finger umschließen ihn wie einen Schatz - deinen Wohnungsschlüssel. In dem Moment, als du ihn mir gestern gabst, war es mir, als würde ich in einer Filmszene mitspielen. Eine Szene, die schon hundert Mal in meinem Kopf abgelaufen ist ... Nun war ich mittendrin und ich versuchte, meine Nervosität wegzulächeln. Und was der Mund nicht schaffte, erledigten meine Augen, die zwei freundlichen Verräter. Doch was war das? Du lächeltest auch mich an. Irritiert und dankbar nahm ich den Schlüssel und fühlte das kühle Metall auf meiner Haut.

Heute also benutze ich ihn zum ersten Mal. Herzklopfen begleitet jeden Schritt, ein Kribbeln im ganzen Körper, als hätte ich eine Stromleitung berührt. Zuerst sehe ich im Briefkasten nach, ob wir - nein, ob du Post hast. Was gibt es eigentlich Schöneres, als einen Briefkasten aufzuschließen? Wie viele Briefe und Zettel von mir schon darin gelegen hatten ... Aber heute war er leer.

Die Stufen zu deiner Wohnung laufe ich zügig hoch. Vor deiner Tür schnappe ich erst mal nach Luft. In dem Maße, wie sich mein Atem wieder beruhigt, galoppiert mein Herz schneller. Es klingt, als würde ich mit beiden Fäusten an deine Tür hämmern, und ich drehe mich um, in der Erwartung, dass der Nachbar öffnet und sich über den Lärm beschwert.

Dann kommt endlich der entscheidende Moment, ich schließe deine Wohnungstür auf, schlüpfe hinein, lehne mich von innen dagegen und spüre - eine kleine Ernüchterung. Keine Glocken erklangen, und auch der Himmel stürzte nicht ein, es war und blieb doch nur eine geöffnete und wieder geschlossene Tür.

Für einen Moment stelle ich mir vor, wie ich in den Korridor rufe: "Ich bin da!" und wie du mir entgegenläufst. Der gewohnte Geruch deiner Wohnung spielt mit meinen Sinnen. Ich gehe in die Stube, dann in die Küche, wieder zurück in den Flur, als wollte ich eine Spur zeichnen, meine Schritte einprägen. Ich bewege mich auf gewohntem Terrain, denn unzählige Male war ich schon bei dir. Aber heute ist es anders. Vor der Tür zu deinem Schlafzimmer bleibe ich stehen, lege zögernd die Hand auf die Klinke. Ich habe das Gefühl, eine Grenze zu überschreiten, wenn ich sie öffne. Vielleicht würdest du es bemerken?

War es nicht ein Vertrauensbeweis, dass du mir den Schlüssel gabst? Sie hatte jedenfalls keinen! Im Wohnzimmer öffne ich weit die Balkontür und trete hinaus. Der kleine klappbare Holztisch erzählt Geschichten von Rotwein- und Kerzenabenden und ich möchte am liebsten laut schreien: "Schaut her, hier stehe ich, ich bin hier, ich und keine Andere!" Ich setze mich in der Stube auf die Couch, auf genau denselben Platz, auf dem ich immer sitze, wenn ich bei dir bin. Es ist anders heute, es ist so verdammt anders und es macht mich nervös und beruhigt mich zugleich. Liebevoll streicheln meine Augen den Schrank, in dem du Schallplatten und CDs gestapelt hast, und ich sehe dich wieder davor hocken, eine Musik für unseren Abend auswählen ... Ich suche an der Wand nach einem guten Platz für mein Geburtstagsgeschenk für dich. Für das große Bild von deinem Lieblingsmaler, das seit Monaten schon bei mir liegt. Auf deinen schwarzen Möbeln liegt wie immer der Staub und ich hätte große Lust, Herzen hineinzumalen. Auf dem Anrufbeantworter blinken zwei Nachrichten. Ich lege meinen Finger auf die Taste, um das Band zurückzuspulen, zögere aber. Plötzlich höre ich ein Geräusch. Schritte? Ich halte die Luft an und stelle mir vor, du schließt die Tür auf ...

Dann endlich besinne ich mich, warum ich hier und jetzt in deiner Wohnung bin und suche nach einer Kanne, um deine Pflanzen zu gießen. - Du bist für zwei Wochen verreist.

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