Porto Alegre 2003 - zum dritten Mal ist die Stadt im Süden Brasiliens Gastgeberin des Weltsozialforums. Vom 23. bis 28. Januar treffen sich Aktivisten aus allen Kontinenten, mehr als 100.000 werden erwartet. Im vergangenen Jahr war der Kontrast zur Welt der Reichen und Mächtigen besonders deutlich: dort das "World Economic Forum" im New Yorker Waldorf Astoria Hotel, zur Festung ausgebaut und schwer bewacht - zur gleichen Zeit dagegen in Porto Alegre der offene Campus mit seinem Mix aus Festivalatmosphäre und ernsthafter, intensiver Debatte über eine andere Welt. Inspiriert von Porto Alegre ist die globalisierungskritische Bewegung mittlerweile weit mehr als nur eine Reaktion auf G 8-Treffen oder Konferenzen des Internationalen Währungsfonds.
Früher war Porto Al
;her war Porto Alegre eine beschauliche Stadt, ein "fröhlicher Hafen" an der südbrasilianischen Atlantikküste unweit der Metropolen Montevideo und Buenos Aires. Seine Bewohner liebten Porto Alegre wegen der Übersichtlichkeit und gepflegten Provinzialität. Sie konnten in Ruhe ihren Geschäften nachgehen und sonntags auf der Rua da Praia im Zentrum flanieren. Europäische Einwanderer aus Italien, Portugal, Deutschland und Polen prägten das Stadtbild. Noch heute nennen sich die Einwohner des Bundesstaats Rio Grande do Sul "Gaúchos", nach den reitenden Viehhirten der heimischen Pampa.Heute ist Porto Alegre eine unruhige Metropole mit allen Reizen und Gefährdungen einer Großstadt. Der schöne, nicht eingezäunte Stadtpark Redenção etwa wandelt mit Einbruch der Dunkelheit sein Gesicht: Wo tagsüber Eltern mit ihren Kindern spielen und Rentner auf schattigen Bänken plaudern, bestimmen nachts Zuhälter und Prostituierte die Szene, die im Morgengrauen von bewaffneten Räubern abgelöst werden.Die Reize der Stadt am Rio Guaíba sind eher verborgener Natur. Die Hügel, die in steilen Straßen zum Hafen hinab führen und immer neue Perspektiven ermöglichen, gehören dazu, und das warme leuchtende Licht auf den türkis- oder rosafarbenen Hausfassaden. Selbstironisch beanspruchen die Porto Alegrenser den "schönsten Sonnenuntergang der Welt" für sich.In São Paulo oder Rio würde das Weltsozialforum kaum auffallen. In Porto Alegre dagegen ist es ein Höhepunkt des Jahres. Ariel, Student der Ingenieurwissenschaften, hat sich schon früh in die Liste der freiwilligen Helfer eingetragen. Er bietet sich als Stadtführer für die vielen internationalen Gäste an. Auf seinem T-Shirt steht das Motto "Un outro mundo é possível" - Eine andere Welt ist möglich. Nicht alle Studenten engagieren sich beim Sozialforum, viele sind in den Januarferien am Strand, andere müssen arbeiten. Ariel ist überzeugt: "Das Sozialforum war und ist immer noch sehr wichtig für Porto Alegre. So wurde die Stadt auf der ganzen Welt bekannt. Die Diskussionen, die auf dem Forum geführt werden, sind wichtig, um die Situation in Lateinamerika und in der Welt zu verändern. Und sie bringen uns dazu, über unsere eigenen Probleme nachzudenken."Ariels Familie vertritt den Mittelstand, der in Porto Alegre immerhin mehrere Stadtviertel prägt. Seine Mutter ist Akademikerin, die mit zwei Berufen, als Gerichtssprecherin und Journalistin, durch den Tag hetzt. Ähnlich ergeht es dem Ingenieur Antonio, der als zweites Standbein einen Copy-Shop betreibt. Wie der Mittelstand zu kämpfen hat, zeigt auch das Beispiel von Carlos, Jungunternehmer und Betreiber der besten Bäckerei im lebensfreudigen Viertel Cidade Baixa, gleich neben dem Stadtpark. Sein "sonho com creme" etwa, eine Art Riesenpfannkuchen mit geheimnisvoller Crèmefüllung, ist ein Traum. Carlos´ erster Laden war eine kleine Weinhandlung, die den Namen gab für seine jetzige Bäckerei, "Armazém da esquina" - das Depot an der Ecke. Abends reicht die Schlange bis auf die Straße, Carlos steht mit gewinnendem Lächeln an der Kasse, und die Verkäuferinnen sind bei aller Eile von ausgesuchter Freundlichkeit. Sie alle sind ständig verfügbar: Sieben Tage in der Woche hat "Armazém" von acht bis nach zwanzig Uhr geöffnet. Weihnachten, Ostern und Karneval ergeben fünf freie Tage im Jahr. Das Leben findet am Arbeitsplatz statt, und über das Sozialforum erfährt Carlos durchs Fernsehen, die Lokalzeitung und das Gespräch mit seinen Kunden.Carlos ist italienischer Abstammung. Er würde gern deutsch lernen, weil er arbeite wie ein Deutscher, meint er. Dabei macht er eine schnelle Geste, bei der die Finger der rechten Hand hörbar aufeinanderprallen. Es ist das Zeichen für Arbeit, wahlweise "trabalho" oder "luta" genannt. "Luta" heißt eigentlich Kampf und klingt beim ersten Hören ungewohnt klassenkämpferisch. Otacílio benutzt es gern, ein farbiger Rentner mit weißem Kraushaar unter der Schirmmütze, der Autos in Parklücken winkt, um den kärglichen Lohn seiner Frau etwas aufzubessern. Statt nur auf seine kleine Rente zu warten, die seit Jahren aussteht, fährt er lieber jeden Tag vom Armenviertel am Stadtrand mit dem Bus nach Cidade Baixa, um ein paar Reais zu verdienen. Mittags setzt er sich zum Ausruhen in den Schatten eines Guavenbaums. Auch für ihn wird das Sozialforum ohne spürbare Folgen bleiben. So gibt es in Porto Alegre das ganze Spektrum von sozialen Existenzen - vom Obdachlosen, der nichts hat außer einer Wolldecke für die Nacht, bis zu den Bewohnern der vornehmen, mit privaten Wachmannschaften abgesicherten Straßenzüge.Die Geschichte des Weltsozialforums wäre ohne das politische Interesse der PT-Regierung in der Stadt Porto Alegre nicht denkbar. Allerdings ist die Arbeiterpartei PT auch in bürgerlichen Kreisen salonfähig und stellte bis Oktober 2002 die Regierung im Bundesstaat. Was die Stadt besonders prädestiniert zur Ausrichtung des Weltsozialforums, ist das Selbstverständnis von "cidadania", von engagierter Bürgergesellschaft. Das "orcamento participativo", bei dem die "cidadões", die Bürger, über die Verwendung von Steuergeldern mitentscheiden, ist mittlerweile international bekannt. Auch CIVES, eine Organisation von Unternehmern für die "cidadania", gehört zu den Gründungsmitgliedern des Forums. Die Riesenveranstaltung findet vor allem in den modernen Räumen der Katholischen Universität statt, die ebenfalls keine Berührungsängste gegenüber den Globalisierungskritikern verschiedener Schärfegrade hat. Zur "cidadania" gehört schließlich das Engagement im Wahlkampf: Vor allem die Arbeiterpartei (PT) kann ihre Mitglieder und Sympathisanten so mobilisieren, dass sich ganze Straßenzüge von PT-Fahnen rot färben und die Stimmung dabei etwa so aufgedreht ist wie bei einem wichtigen Fußballspiel.Zwei Auftritte werden auf dem diesjährigen Forum sicherlich unvergessen bleiben: Zunächst kommt Lula, der erste gewählte Präsident einer Linkspartei in der Geschichte des Landes und dann Paulinho da Violas im Kulturprogramm am Rio Guaíba. Wenn der 60 Jahre alte "Sambista" aus Rio mit seiner Gitarre die ersten Töne anstimmt, ist "die andere mögliche Welt" schon ein wenig näher gerückt.
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