Der Schrank der Schande ist geöffnet

Späte Sühne In München findet derzeit einer der letzten Kriegsverbrecherprozesse statt

Jahrzehntelang war es um die juristische Aufbereitung von NS-Kriegsverbrechen in Italien beinahe ebenso schlecht bestellt wie in der Bundesrepublik. Unter Musso-lini mit Hitler verbündet, hatte Italien in den letzten Kriegsmonaten schließlich den Duce zum Teufel gejagt und sich auf die Seite der Alliierten geschlagen. Die Deutschen rächten sich daraufhin an italienischen Soldaten und Zivilisten. Als sich beide Staaten nach 1945 im Kalten Krieg erneut auf der gleichen Seite der Front wiederfanden, verschwanden die Akten über die zahlreichen deutschen Kriegsverbrechen in Italien im wahrsten Sinne des Wortes im Giftschrank - und in der Bundesrepublik zeigte man ohnehin wenig Interesse an Aufklärung.

Als "Schrank der Schande" ist jenes Möbelstück im römischen Verteidigungsministerium berühmt geworden, in dem die Dokumente versteckt wurden, bis sie vor wenigen Jahren wieder auftauchten. Zahlreiche Prozesse gegen deutsche Täter folgten. Sie endeten oftmals mit Schuldsprüchen, wobei die meisten Angeklagten weder vor Gericht erschienen noch je eine Haftstrafe antreten mussten - denn die Bundesrepublik liefert ihre Staatsbürger grundsätzlich nicht an andere Staaten aus. Nur in den wenigsten Fällen sahen sich deutsche Staatsanwaltschaften bemüßigt, selbst zu ermitteln wie jetzt in München, wo vor dem Landgericht derzeit einer der wohl letzten NS-Kriegsverbrecherprozesse verhandelt wird.

Dem einstigen Offizier der Gebirgspioniere Josef S., inzwischen 90 Jahre alt, wird vorgeworfen, im Juni 1944 einen grausamen Racheakt angeordnet zu haben. Nachdem italienische Partisanen zwei deutsche Soldaten getötet hatten, erschossen die Deutschen im toskanischen Dorf Falzano di Cortona erst willkürlich vier Menschen und sperrten dann elf Zivilisten im Alter zwischen 15 und 66 Jahren in ein Haus und sprengten es. Nur Gino M., damals 15 Jahre alt, überlebte. Vor dem Münchner Landgericht hat er seine schrecklichen Erlebnisse von damals nun noch einmal zu Protokoll zu geben. Der Bürgermeister von Cortona, Andrea Vignini, begleitete ihn bei seiner Fahrt nach München: "Das Massaker ist für ihn eine grausame Erinnerung, die ihm jahrelang den Schlaf geraubt hat. Das, was ich in diesem Prozess gehört habe, war schlimmer als das, was ich in all den Jahren in unzähligen Büchern und Veröffentlichungen gelesen habe."

Der Angeklagte S. soll das Massaker befohlen haben und wurde dafür bereits vor zwei Jahren vom Militärgerichtshof in La Spezia zu lebenslanger Haft verurteilt - natürlich in Abwesenheit. Beim alljährlichen Pfingsttreffen der Gebirgsjäger nahe Mittenwald war Josef S. dagegen bis vor kurzem stets anwesend. Dort, am Hohen Brendten, gedenken Wehrmachtsveteranen und Bundeswehrsoldaten gemeinsam mit CSU-Politikern jedes Jahr der Gefallenen - neuerdings, nach heftigen Protesten, auch "allen Opfern von Krieg und Terror". Gebirgsjäger waren nachweislich an Dutzenden von NS-Kriegsverbrechen beteiligt. Sie metzelten auf der griechischen Halbinsel Kephalonia tausende unbewaffnete italienische Soldaten nieder, waren beteiligt an der Deportation der griechischen Juden, und sie verübten bei der so genannten "Bandenbekämpfung", also im Kampf gegen Partisanen, zahlreiche Massenmorde an Zivilisten.

Obwohl sich die Blutspur der Gebirgsjäger durch ganz Europa zieht, wurde kein einziger je von der deutschen Justiz zur Rechenschaft gezogen. Stattdessen wurden Gebirgsjäger in der neugegründeten Bundeswehr bis in die neunziger Jahre in Kasernen gedrillt, die nach Massenmördern benannt waren.

Josef S. könnte nun der erste - und vermutlich auch der einzige - Veteran der Gebirgstruppe werden, der für seine Taten tatsächlich von einem deutschen Gericht belangt wird. Doch allzu gut stehen die Chancen nicht. Die Liste der Zeugen, die noch vor zwei Jahren dem italienischen Militärgerichtshof zur Verfügung gestanden hatte, hat sich weiter ausgedünnt. Die verbliebenen Zeugen sind gebrechlich und haben Erinnerungslücken - vor allem dann, wenn es um die entscheidenden Frage geht: Wer hat den Racheakt von Falzano di Cortona befohlen? Es ist offensichtlich, dass sich einige vorab mit dem Angeklagten abgesprochen haben. Die anfangs zuständige Dortmunder Staatsanwaltschaft konnte bei der Überwachung der Telefonate des Angeklagten mithören, wie er sich mit potenziellen Zeugen aus seinem Bataillon verabredete. Welche Absprachen bei diesen Treffen dann getroffen wurden, wurde aber nicht überwacht oder ermittelt.

In seiner Heimatgemeinde Ottobrunn südöstlich von München ist S. bis heute ein angesehener Geschäftsmann und Bürger, lange Jahre war er im Gemeinderat, erhielt die Bürgermedaille und ist Ehrenkommandant der Freiwilligen Feuerwehr Ottobrunn. Und bislang denkt niemand daran, ihm diese Ehren abzuerkennen. Ottobrunns CSU-Bürgermeister gab einige Monate vor Prozessbeginn gar eine Ehrenerklärung für Josef S. ab. Was den Bürgermeister von Cortona, Andrea Vignini befremdet: "Er hat erklärt, der deutsche Angeklagte sei eine anständige Person. Ich bezweifle dies nicht, was sein späteres Leben betrifft. Aber worüber wir Klarheit schaffen müssen, ist die Zeit in der er mit seiner Truppe in Cortona war." Er vertraue der deutschen Justiz, sagt Vignini, und hofft, dass der Prozess nicht zur Bühne wird für jene "übliche alte Geschichte, die wir seit mehr als 60 Jahren seitens der Kriegsverbrecher immer wieder hören, nämlich, dass sie Befehlen gehorchen mussten".

Dass der Prozess jetzt in München stattfindet, sei ein historisches Ereignis, betont Vignini. Vor Gericht stehe jedoch ein Individuum, "eine Person, die eine der verdammenswertesten Taten begangen hat". Die Verantwortung bleibe immer beim einzelnen Täter. Dass sich der Täter von Falzano di Cortona erst so spät verantworten muss, dass tausende andere Mörder nie zur Rechenschaft gezogen wurden, dafür aber ist die deutsche Justiz verantwortlich.

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