In seinen Memoiren Vertrauter Fremder: Ein Leben zwischen zwei Inseln beschreibt der Soziologe Stuart Hall, wie er das erste Mal nach London kam. Dort habe er, der 1951 von Jamaika zum Studieren nach Großbritannien ging, an der Paddington Station eine Gruppe schwarzer Menschen gesehen, die zu jener „karibischen Nachkriegs- und Post-Windrush-Migration“ gehörten, „die Britannien über die Jahre verändert hat“. Dieser Moment der Begegnung mit anderen schwarzen Einwanderer:innen, so Hall, sei für ihn „überwältigend“ gewesen: „Es veränderte die Möglichkeiten, die ich hatte, zu verstehen, wer ich war und wer ich werden könnte“.
Um eben diese Lebensgeschichten und Erfahrungen der afrokaribischen Commun
okaribischen Community in London geht es in der BBC-Filmreihe Small Axe. Jeder der fünf Teile, die in der Zeit zwischen den späten 1960er- und frühen 80er-Jahren spielen, ist ein eigenständiges Filmkunstwerk; gemeinsam fügen sie sich jedoch zu einem einzigartigen zeitgeschichtlichen Panorama zusammen. Vier der fünf Teile basieren auf wahren Begebenheiten. In der ersten Folge geht es etwa um das Mangrove-Restaurant in Notting Hill (damals einer der heruntergekommensten Stadtteile Londons), das ein beliebter Community-Treffpunkt war, in dem unter anderem Nina Simone und Jimi Hendrix vorbeischauten. Eine weitere Folge ist Leroy Logan gewidmet, der als Polizist Rassismus „von innen“ bekämpfte. Alex Wheatle schildert das Aufwachsen in Vernachlässigung des späteren preisgekrönten Kinder- und Jugendbuchautors. Im letzten Teil, Education, lässt Regisseur Steve McQueen eigene Erfahrungen als afrokaribisches Kind mit Dyslexie im Londoner Schulsystem einfließen.Small Axe ist ganz und gar das Projekt McQueens, der nicht nur Regie führt, sondern auch die Drehbücher mitgeschrieben hat. Er wurde als Sohn von Eltern aus Grenada und Trinidad in London geboren. Als Videokünstler bereits preisgekrönt, wechselte McQueen 2008 mit Hunger, einem Film über den Hungerstreik des IRA-Mitglieds Bobby Sands, zum Kino. 2014 gewann er mit 12 Years a Slave den Oscar für den besten Film. Der Titel Small Axe bezieht sich auf einen Song von Bob Marley; Musik ist in den fünf Filmen allgegenwärtig, als Soundtrack ebenso wie als Teil der Lebenswelt der Figuren.Tanz erschafft eine UtopieLover’s Rock, die einzige „nichthistorische“ Folge, spielt nahezu komplett auf einer privaten Hausparty in den späten 70ern, zu der Martha (Amarah-Jae St. Aubyn) mit einer Freundin geht. Wie in Trance schwebt die Kamera in langen Einstellungen um die tanzenden Körper herum, während der DJ Reggae-Hits spielt. Die Bilder sind in warme Orangetöne gehüllt, die aus der Tanzfläche einen utopischen Ort jenseits der feindseligen Außenwelt machen. Er habe eine Feier des sinnlichen Erlebens schaffen wollen, so McQueen in einem Interview.Anderes ist dagegen in einem sozial-realistischen Stil erzählt. In Education geht es um den institutionellen Rassismus des Schulsystems. Der zwölfjährige Kingsley (Kenyah Sandy) ist klug und will Astronaut werden, wird aber wegen seiner Leseschwäche vom Schulleiter mit fadenscheiniger Begründung auf eine Sonderschule versetzt, in der die Kinder ohne jede Förderung völlig sich selbst überlassen bleiben. Die Versetzung schwarzer Schüler:innen auf sogenannte „subnormal schools“ war eine verbreitete Praxis in London, gegen die eine Gruppe schwarzer Aktivist:innen schließlich Protest organisierte.Auf unterschiedliche Weise geht es in allen Teilen von Small Axe um das Schaffen eigener, alternativer Räume und Erzählungen. In Alex Wheatle bekommt Alex (Sheyi Cole) im Gefängnis von dem Zellennachbarn Simeon (Robbie Gee) das Buch The Black Jacobins von C. L. R. James über die Haitianische Revolution in die Hand gedrückt. Ab 1791 erhoben sich damals schwarze Sklav:innen gegen die französische Herrschaft und erkämpften 1804 ihre Freiheit und die Unabhängigkeit des Staates Haiti. Wer seine Vergangenheit nicht kenne, so Simeon, könne auch über seine Zukunft nichts wissen.Wheatle wuchs als Waise im Süden Englands auf und kam als Jugendlicher nach Brixton, wo er 1981 während der Brixton Riots verhaftet wurde. Im Film werden Archivfotos der damaligen Proteste und Ausschreitungen gezeigt. Der Gefängnisaufenthalt wird für Wheatle dann zum Katalysator seiner Schriftstellerkarriere.Neben den großartigen Darsteller:innen lebt Small Axe von der Brillanz des Kameramanns Shabier Kirchner. In Red, White and Blue entscheidet sich der Forensiker Leroy (John Boyega), Polizist zu werden, um Reformen anzustoßen. Sein Vater (Steve Toussaint), selbst mehrfaches Opfer rassistischer Polizeigewalt, lehnt Leroys Entschluss ab. Trotzdem fährt er ihn am ersten Tag zur Ausbildung. Die Kamera ist dabei auf dem Rücksitz des Autos fixiert. Als Leroy aussteigt, bleibt der Vater sitzen, dann geht er doch raus, während die Kamera im Auto verharrt. Worüber Vater und Sohn reden, hören wir nicht. Um sie herum gehen Leute vorbei, dazu läuft How Can You Mend a Broken Heart von Al Green. Durch die Autoscheibe sehen wir, wie der Vater nach kurzem Zögern Leroy umarmt. Wie hier widersprüchliche Emotionen in einer meisterhaft choreografierten Einstellung eingefangen werden, ist zutiefst berührend.Es gibt im Verlauf von Small Axe viele Rückschläge, mehr noch aber Momente der Selbstbehauptung. Bei dem Gerichtsprozess in Mangrove entlarvt der Angeklagte Darcus Howe (Malachi Kirby) Stück für Stück die Widersprüche und Lügen in den Aussagen zweier weißer Polizisten. Am Ende sagt er, die Geschichte Großbritanniens könne nicht mehr ohne sie, die schwarze Community, erzählt werden. Small Axe ist ein in jeder Hinsicht herausragender Beitrag dazu.Placeholder infobox-1