Als Bisi Alimi zum ersten Mal einen Jungen küsste, war er 12 Jahre alt. „Es war bestimmt nicht der beste Kuss meines Lebens, aber ich werde ihn nie vergessen“, sagt er heute. Er erinnert sich an die Aufregung, die Verwirrung und an das Alleinsein. „Ich war ratlos, suchte nach Antworten, fühlte mich unendlich einsam mit etwas, für das ich weder einen Namen noch eine Erklärung hatte.“ So beschreibt er seine Situation in Nigeria vor 26 Jahren.
Zu Beginn sträubte sich alles in ihm dagegen, zu dieser Gruppe von Menschen zu gehören, auf die alle herabschauten. Homosexuell zu sein hieß: Sünde, Angst, Schmutz. Es würde für ihn letztlich bedeuten, im Höllenfeuer zu enden. Seine Eltern und Verwandte ließen ihn das dur
hn das durch Schläge und Worte spüren. Er vermisste Zuwendung und Trost. In den Augen der Eltern las er stattdessen das Entsetzen, so ein Kind zu haben. Seine Klassenkameraden verspotteten ihn oder zeigten ihm ihre Verachtung. Alimi suchte Hilfe in der Kirche, gestand seine „Sünden“, fastete und betete. Hilfe erhielt er keine. Dafür musste er sich drei Mal den Prozeduren einer Teufelsaustreibung unterziehen. „Zusammengeschlagen, festgenommen, beschimpft. Du liegst im Dreck, am Ende fühlst du dich wie Dreck“, sagt er. Mit den psychischen Folgen dieser Erlebnisse kämpft er bis heute.Aus dem verunsicherten Schuljungen Adebisi Ademola Alimi ist inzwischen ein selbstbewusster homosexueller Menschenrechtsaktivist geworden, der seit sechs Jahren in London lebt und sich Bisi Alimi nennt. Ende September trat er auf der „Social Media Week“ in Berlin auf und beschrieb in einem Vortrag, wie er die sozialen Medien nutzt, um Themen wie Menschenrechte und Sexualität in der afrikanischen Gesellschaft zu diskutieren.Von der Angst zum StolzAlimi schwärmt von den Möglichkeiten, über das Netz endlich öffentlich zu machen, was viel zu lange verschwiegen oder von den Medien entstellt wiedergegeben wurde: Verbrechen an Schwulen und Lesben in Afrika, Diskriminierung und Verfolgung, das Versagen der Politik in vielen Staaten und das Unverständnis, dass der Kampf für Homosexuellen-Rechte nicht losgelöst werden darf vom Kampf für politische und soziale Menschenrechte. Mit Begeisterung erzählt er von einer steigenden Zahl von Afrikanern, die sich öffentlich bekennen und damit auch ein immenses persönliches Risiko eingehen.Bei seinem Vortrag in Berlin ist die Zahl der Zuhörer überschaubar. Alimi aber spricht mit einer Leidenschaft, als säßen dort Hunderte im Publikum, die er gewinnen und überzeugen müsse. Vor dem Auftritt ist er nervös, die Din-A4-Seiten in seiner Hand hält er fast krampfhaft fest. Später, auf dem Podium, lässt er sie Seite für Seite zur Erde fallen. Und mit ihnen fällt die Nervosität.Einen Tag zuvor nimmt Alimi sich viel Zeit, um in einem Café in Berlin-Mitte aus seinem Leben zu erzählen. Geboren wurde er 1975 in Mushin, einem armen Stadtteil der 10-Millionen-Metropole Lagos. Er kriegt die Chance, das Gymnasium zu besuchen und ab 1999 an der Universität Kunst zu studieren. An der Uni kommt er auch erstmals mit dem Internet in Kontakt, er richtet seine erste eigene E-Mail-Adresse ein. Diesen Moment beschreibt er als das Aufstoßen eines Tors zu einer anderen Welt. „Kolumbus kann sich nicht besser gefühlt haben bei der Entdeckung Amerikas, als ich bei der Erschließung des Netzes für meine politischen Ziele.“Wenn Alimi erzählt, klingt in seinen Sätzen eine große Entschlossenheit durch. Aber da ist noch etwas anderes. Da ist auch Stolz auf das, was er bisher erreicht hat. Aus dem Armenviertel in Lagos hat er es als Aktivist bis zu einer Einladung ins Weiße Haus in Washington gebracht, im Londoner Exil hat er einen Master in „Global Governance and Public Policy“ erworben und er arbeitet in Führungsgremien mehrerer Menschenrechtsorganisationen mit.Er hält Vorträge auf internationalen Konferenzen, schreibt Kolumnen und ist Berater mit eigener Firma. Die Politik ist mittlerweile auch auf ihn aufmerksam geworden, er trifft britische Minister und Parlamentarier, schreibt als selbst HIV-Infizierter an politischen Papieren zur Gesundheitsversorgung und Prävention mit und beriet eine britische Delegation, die in Uganda Menschenrechtsfragen ansprechen wollte.Verletzt trotz des ErfolgsEs könnte wie eine ungebrochene Erfolgsgeschichte klingen. Und doch, gesteht er, gibt es Momente, in denen er sich fühlt wie ein Produkt, dass die Qualitätskontrolle nicht überstanden hat und der Kategorie „Ausschuss“ zugeordnet wird. Er ist immer noch tief verletzt. Eine Therapie hat ihm geholfen, mit den Verletzungen zu leben. Aber die Wunden sind noch nicht geheilt.In 38 von 48 Ländern südlich der Sahara gelten homosexuelle Handlungen als Straftat und werden mit Gefängnis geahndet, in einigen sogar mit der Todesstrafe. Auch die „Unterstützung“ Homosexueller ist in vielen Staaten strafbar, selbst die Vermietung von Wohnraum an sie – und es besteht sogar Anzeigepflicht. Das gilt auch für Nigeria. Trotz der Fortschritte, die Alimi sieht: Die Homophobie hat in Afrika gefährliche Ausmaße angenommen. Angriffe auf Homosexuelle häufen sich und werden kaum verfolgt.Analytisch schlägt Alimi den Bogen von wirtschaftlichen Krisen zu dieser Entwicklung. Es sei kein Zufall, dass es gerade in Krisenzeiten die Tendenz zu verschärfter Gesetzgebung gegen Schwule und Lesben gebe, die durch Hasstiraden in der homophoben Presse begleitet würden. Er belegt das etwa am Beispiel Simbabwes. Er weiß genau, dass die Abschaffung der ursprünglich von den Kolonialmächten eingeführten homosexuellenfeindlichen Gesetze allein nicht genügt. In Südafrika seien diese Gesetze zwar gefallen, die Homophobie aber sei geblieben. „Es geht also um viel mehr: Bildung, Erziehung, Gerechtigkeit, bescheidenen Wohlstand für alle, damit keine Feindbilder nötig sind. Es geht um Toleranz gegenüber Andersdenkenden genauso wie gegenüber verschiedenen sexuellen Orientierungen.“Nach dem Outing ins Exil2007 musste Alimi endgültig aus Nigeria fliehen. Er hatte drei Jahre zuvor einen Schritt gewagt, der sein ganzes weiteres Leben verändern sollte: Er trat im nationalen Fernsehen in einer Talkshow auf, outete sich öffentlich als Homosexueller und forderte gesellschaftliche Akzeptanz für sich und seinesgleichen. Diesen Schritt hatte kein Nigerianer vor ihm gewagt. „Ich wollte das Schweigen über Sexualität endlich brechen“, erzählt er. Nach dem Auftritt erhielt er Liebesbriefe – und Todesdrohungen. Seine Familie verstieß ihn endgültig, ebenso kehrten viele Freunde ihm den Rücken.Als er Nigeria verließ, ging er nach Großbritannien und erhielt dort Asyl. Und in London fand er eine neue Aufgabe: Er begann, sich für homosexuelle Migranten einzusetzen. „Sie brauchen Hilfe im britischen Gesundheitssystem, leiden zum Teil an Traumatisierungen, haben Probleme mit dem Verlust von Heimat und Familie“, sagt er. „Wir leben hier, weil wir daheim verfolgt werden. Wir sind dankbar für das Asyl, das man uns gibt, aber das ändert nichts an all den Problemen der Migration. Unsere Realität unterscheidet sich trotz allem stark von der eines weißen Homosexuellen, der in Europa geboren ist.“Neue Heimat LondonInzwischen hat Alimi die britische Staatsbürgerschaft angenommen. „London ist heute mein Zuhause, in Nigeria habe ich meine Wurzeln. Das Internet macht es möglich, weit über die europäischen Grenzen hinaus politisch aktiv zu sein.“ Er verstehe sich dabei nicht als Exporteur von Expertise, betont er. Die Bewegungen in den afrikanischen Ländern machten große Fortschritte, so dass er mit den anderen Aktivisten vor Ort auf Twitter und Facebook auf Augenhöhe Meinungen über Strategien austausche.Und seine Familie? Sie ist bis heute ein wunder Punkt. Mit seiner Mutter telefoniere er regelmäßig, doch seien die Gespräche immer sehr kurz. „Wir sprechen kaum länger als drei Minuten. Sie fragt, wie es mir geht, aber sie will nichts hören über mein Privatleben. Unter anderen Umständen würden wir über meine Familie, über Enkelkinder und über meine Arbeit sprechen. Aber ich bin Single, Enkelkinder gibt es nicht, und meine Arbeit hat allzu viel mit dem Tabuthema Homosexualität zu tun.“ Darüber kann und will seine Mutter nicht sprechen. Alimis sonst so starke Stimme bricht, als er sagt: „Ich verstehe, dass es schwer für sie ist, meinetwegen mit dieser Schande zu leben.“
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