Hoda und Yvonne sind nackt. Sie stehen unter südlicher Sonne im ruhigen Meer und bewundern jenes uferlose Blau. Wegen des Wassers, des blauen Meers, haben sie in ihren Leben viel leiden müssen. Nun verbringen sie ihren Urlaub an einem italienischen Strand und erinnern sich an ihre erste Begegnung mit dem Meer. Die Autorin Hanan Al-Shaykh lässt diese zwei geschäftlich erfolgreichen Libanesinnen abwechselnd zu Wort kommen. Man erfährt jedoch nicht sehr viel über ihr abenteuerliches Leben. Sie erzählen nur den Teil, der mit dem unendlichen Wasser, mit dem blauen Meer zu tun hat. Im jüngsten Roman von al-Shaykh Zwei Frauen am Meer geht es um die Verortung des Wassers im Leben zweier Frauen.
Wenn Hoda an der Reihe ist, erinnert sie sich an ihre Jugendzeit
ihre Jugendzeit in Beirut der sechziger Jahre. In Europa war das eine Dekade fröhlicher Anarchie: Die Beatles und die Rolling Stones, Godard und Truffaut, die Anti-Baby-Pille, Miniröcke. Hoda durfte in der Zeit in Beirut nicht einmal einen Badeanzug tragen, im Meer schwimmen oder sich am Strand sonnen. Denn Baden im Meer hieß, "dass der Ruf der Mädchen besudelt würde, wie ein silberner Teller, über den sich eine Schliere zog und die glänzende Oberfläche befleckte".Da Yvonne aus einer christlichen Familie stammt, durfte sie als junges Mädchen zwar im Meer baden, aber auf gar keinen Fall in Konkurrenz mit ihren von der Mutter göttlich geliebten Brüdern treten. Mit den Ohrfeigen, Schlägen und Kniffen hat die Mutter ihr zu verstehen gegeben, dass sie ihre Brüder nicht herausfordern dürfe, von den hohen Felsen ins Meer zu springen. Als sie einmal mit dem älteren Bruder rivalisierte, warf sie ihr lauthals vor: "Du hast ihn gebrochen. Du hast ihn kastriert - möge Gott dich kastrieren."Hanan al-Shaykh erzählt nackt, ruhig und schnörkellos. Die Stärke ihres Stils liegt an den präzisen Beschreibungen. Denn je näher die Ereignisse geschildert werden, desto tiefer sehen wir in die Seele der Protagonistinnen, die von den fürchterlichen Rissen der Kindheitszeit verwundet sind. Dabei stützt sich die 57-jährige Schriftstellerin al-Shaykh auf die literarische Tradition der arabischen Autorinnen am Ende der fünfziger und während der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Beeinflusst von den französischen Schriftstellerinnen (vor allem Françoise Sagan und Simone de Beauvoir) vertraten sie die Auffassung (zumal in Damaskus und Beirut), dass der Akt des Schreibens ebenso bedeutend ist wie die von der schreibenden Frau getroffenen Auswahl der Themen.Die Damaszenerin Colette Khoury verkörpert diese Bewegung in geradezu mustergültiger Weise- und zwar schon seit ihrem Erstlingsroman Tage mit ihm. Sie erzählt darin die Geschichte einer jungen Frau, die sich die Freiheit erobern will, indem sie bei der Wahl ihres Mannes dem Ruf des Herzens folgt und nicht dem Diktat der Sitten und Gebräuchen.Laila Baalbakis Bücher, die den Einfluß von Simone de Beauvoir verraten, sind von rebellischem Intellektualismus geprägt. Wenn Colette Khourys subjektive Figuren nach der Freiheit (in Verbindung mit einem Mann) streben, versuchen die von Laila Baalbaki sie in einem neuen Kontext zu verwirklichen. Ihrem Verständnis nach soll der Mann in einer modernen Gemeinschaft für Frauen nicht als die einzige Alternative, sondern als ein Element unter anderem fungieren. Baalbakis Protagonistinnen spiegeln eine kollektive und soziale Weltsicht wider und nehmen sich das Recht und die Freiheit, auch im gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.Ghadal al-Samman ist die wichtigste Autorin dieser in den sechziger Jahren eingeleiteten Bewegung. Ihre Werke, die von der sozialen Sensibilität und einem spürbaren Aufruhr in der Gesellschaft erzählen, verkünden den endgültigen Durchbruch der Literaturproduktion arabischer Frauen. Al-Samman war die erste Schriftstellerin, die nicht nur die Intellektuellen, sondern auch den einfachen Leser in arabischen Ländern angesprochen hat. Daher finden ihre Werke ein ebenso großes Publikum wie die bekannter männlicher Autoren wie Nagib Machfus, Yusuf Idris oder Mahmud Darwish.Für die Irakerin Diesi al Amir treten die Welt der Frau und die des Mannes je nach den Umständen miteinander in Verbindung beziehungsweise entfernen sich voneinander, bleiben aber dabei immer sehr verschieden. Nur eine Frau kann daher das Universum der Weiblichkeit beschreiben. Als provokativste Autorin hat sich Nawal Saadawi gezeigt. Die Ägypterin schreibt nicht nur für die Frau, sondern gegen den Mann. Sahar Khalifa und Emilie Nasrallah gehören zu den Autorinnen, deren Hauptinteresse Themen gesellschaftlicher und patriotischer Art gilt.Die Frau gegen den Mann (N. Saadawi), Frau und Mann als gemeinsame Opfer der Gesellschaft (Gh. al-Samman), die Frau als prädestiniert für jeglichen gesellschaftlichen Mißerfolg (D. al-Amir), Emanzipation durch Kultur (C. Khoury) - die Literatur arabischer Frauen entwickelt sich um diese Kernthemen weiter.Die im 1975 vor dem Bürgerkrieg geflüchtete und heute in London lebende Autorin al-Shaykh macht meistens die aufgeklärten und reflektierten Frauen, die sich gegen patriarchalische Tradition auflehnen, zu ihren Heldinnen. Unbelastet von Furcht und Zittern moslemischer Jenseitstraumata, gilt für Hoda in Zwei Frauen nur der Maßstab des freien Frauenlebens. Obwohl sie nach gesellschaftlichen Konventionen genug Gründe hat, sich wegen des Todes ihres Vaters, eines Religionsgelehrten, Vorwürfe zu machen. Er ist nämlich durch einen Herzinfarkt gestorben, nachdem er damals Hoda im Badeanzug, im Schwimmbad und "in den Armen des Wassers" gesehen hat. In dieser Hinsicht hat auch Yvonne sich zu rechtfertigen. Ihre Mutter macht sie für die Untauglichkeit ihrer Brüder verantwortlich. Weil sie beim Schwimmen und Springen "immer mit ihnen wetteifern wollte" und deshalb "allen dreien das Kreuz gebrochen hat." Diese Anschuldigungen haben aber al-Shaykhs Heldinnen nicht daran gehindert, in die Welt zu gehen und ihr Glück zu suchen. Nicht damals und nicht heute. Deshalb baden sie nun im blauen Mittelmeer und erzählen uns nackt vom Segen der Freiheit und des Wassers.Hanan al-Shaykh: Zwei Frauen am Meer. Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich. Marebuchverlag, Hamburg 2002, 127 S., 18 EUR