Gibt es ein Ende der Geschichte? Schon als Francis Fukuyama um die Epochenwende seine fulminante Großthese aufstellte, hatte sie etwas apart Selektives. In den Verliesen Schwarzafrikas oder in den Reisfeldern Fernost hatte man vom glänzenden Epochensieger namens "liberaler Kapitalismus" noch gar nichts gehört. Und wem die Flammen auf dem Balkan und das Fegefeuer der Nationalitätenkonflikte in der alten Sowjetunion nicht eh schon reichte, um das Traktat über das Vakuum der Posthistoire als glänzend geschriebenes Politologen-Märchen abzutun, für den fand es spätestens am 11. September vergangenen Jahres sein Ende.
Fukuyama vergreift sich gern an Superlativen. In seinem jüngsten Buch prophezeite er gar Das Ende der Menschheit. Doch nicht nur di
Doch nicht nur die Hardware der Historie hat das essayistische Großmaul widerlegt. Sondern auch die Software. Wenn irgendwo der Sauerstoff des Geschichtsbewusstseins wieder strömt, dann in dem Wasteland des Epochenbruchs. Das Lebenselixier breitet sich in tausend Formen aus. Mal wird der Osten zur Projektionsfläche. Bürgerkinder West suchen dort Schuld und Vergessen ihrer Väter. Mal wird er zur Erinnerungslandschaft. Arbeiterkinder Ost suchen das normale Leben hinter den Revolutionsfassaden. Dass eine ungarischstämmige Autorin wie die 1960 in Deutschland geborene Zsuzsa Bank dreizehn Jahre nach 1989 in ihrem Debüt Der Schwimmer (Freitag 35/2002) das Alltags-Schicksal zweier Halbwüchsiger im sozialistischen Ungarn der fünfziger Jahre zum Thema macht, zeigt: das Trauma der Geschichte ist längst nicht abgearbeitet."Mich ängstigt, den Boden unter meinen Füßen nur wenig zu kennen, selten nach hinten und stets nur nach vorn geschaut zu haben", sagt Jana Hensel zu Beginn ihres jüngst erschienenen Buches Zonenkinder und liefert damit einen weiteren Beleg für dieses neu erwachte Geschichtsinteresse. "Der Osten war geschichtslos geworden" klagt die Leipzigerin über die neunziger Jahre. Vor lauter "authentischen" Mediengeschichten über das Leben in der "Zone" nach der Wende habe sich deren wahre Geschichte eigentlich eher verflüchtigt. Das will sie nicht hinnehmen. Und ihre Erinnerung, ihre Geschichten, ihr Geschichtsinventar dagegen setzen. Doch dabei schlägt sie einen irritierenden Ton an. Die Berliner Literaturstudentin geht auf eine tour sentimentale durch das verschwundene Land ihrer Kindheit. Beim Gang durch ihre Heimatstadt sucht sie eine andere Zeit, die den "Geruch eines Märchens" hat. Mit verlorener Stimme beschwört sie eine Zeit, "die sehr lange vergangen ist, in der die Uhren anders gingen ... und die Schleifen im Haar anders gebunden wurden." Dagegen ist Eichendorff ein Realist.Nanu, denkt man also zunehmend beunruhigt: 1976 geboren, Herausgeberin der unorthodoxen Literaturzeitschrift Edit. Warum wird so jemand plötzlich nostalgisch? Andere ihrer Generation könnte man doch auch zu den "Zonenkindern" rechnen. Also zu jenen Jugendlichen, die ihr halbes Leben im und das halbe Leben nach dem Sozialismus verbracht haben. Sie sind nicht unbedingt Freunde des Kapitalismus West geworden. Doch von der Sehnsucht nach dem versunkenen Märchenland Ost haben sie sich auch nicht hinreißen lassen. Ingo Schulze, 1962 in Dresden geboren, verschwendet wenig Zeit auf die Vergangenheit. 1998 registrierte er in seinem Buch Simple Storys kaltblütig wie ein amerikanischer Short-Story-Writer das Alltagsleben im Osten nach 1989 im Mikrokosmos des thüringischen Altenburg (Freitag 13/1998). Und ein Autor wie der 1970 geborene Berliner Jochen Schmidt lacht nur über die verkorkste DDR-Boheme. Mit viel Ironie, manchmal mit zuviel Kalauern will er einfach im Leben heute ankommen. Womöglich haben sich Schulze und Schmidt manchmal ähnlich wie Hensel gefühlt, als über Nacht die Dinge in der DDR ihren Namen verloren und sie gezwungen waren, "permanent alte gegen neue Bilder auszutauschen". Doch das Etikett "Generation Zone" haben sie sich bis jetzt nicht aufgeklebt.Diese "Zone" hat nicht erst seit dem 9. November 1989 manchen vorschnellen Verdammungsruf über sich ergehen lassen müssen. Gewiss wäre es Zeit für ein paar subtilere Darstellungen. "Ich habe das Gefühl, die heute 20-Jährigen wollen plötzlich wissen: Wie war das damals in der DDR, was war da los?" auch Wolfgang Hilbig glaubt eine Neugier entdeckt zu haben, die Substanzielleres als die einseitigen Moralabrechnungen hören will. Doch für ein politisch-historisches Sachbuch, das diese Aufklärung leisten könnte, erlaubt sich Jana Hensel einen erstaunlichen Verzicht auf Analyse. Schon mit dem Titel Zonenkinder steckt sie sich die im Westen gern benutzte Abwertungsvokabel demonstrativ als Müllbrosche ans Revers. Bei ihr sieht es auch ganz so aus, wie man das eklige Schmuddelland geschildert bekam. Zwischen den obligaten, braunen Velourstapeten der VEB Stadtreinigung bereitete sie sich auf die Jugendweihe vor. Doch warum dieser Staat, der nachträglich zu einer Heimat mit "schönem, warmen Wir-Gefühl" romantisiert wird, gescheitert sein könnte, darauf verschwendet sie keinen Gedanken. Dissidenten, Grenze, Knäste und Wehrkunde kommen nicht vor. Unkommentiert findet sich ein Faksimilie ihrer Eintragung zum Tag der Volksarmee am 1. März im Schulheft. Dass Volker Braun kurz nach der Wende noch schreiben musste: "Von unserer Insel Utopia/Vertrieben, aus Mangel an Fantasie, genussunfähig" und sich vor der aufmarschierenden Coca-Cola-Reklame grauste, dafür hatte man Verständnis - dass eine fast 40 Jahre jüngere Autorin uns nun noch einmal die geschmacklose rote Limo "Leninschweiß" ausschenkt, weiße Pionierblusen und den Volkshelden "Teddy" Thälmann als magische Markenprodukte umlegen will, schon weniger. Alles ist übrigens gar nicht verschwunden. War Jana Hensel noch nicht bei Plus, wo der Geruch der guten alten DDR-Knusperflocken lockt?Überhaupt legt Hensel Wert vor allem aufs Dekor. Eingeschlagen ist ihr Band in dem faserreichen Holzpapier, auf dem auch die Besetzungszettel in Frank Castorfs Berliner Volksbühne gedruckt sind. Die Kargheitsästhetik vergangener Tage wird aufgerufen. Bei uns war früher alles einfacher und nicht so verschwenderisch wie heute! Fotos von Fünf-Mark-Turnschuhen und ihrem Ferienlagerausweis ikonisieren die bescheidenere Dingwelt des untergegangenen Systems. Jana Hensel hat ein Poesiealbum kreiert. Dem Land ihrer Jugend widmet sie darin Sätze wie ihrer liebsten Freundin. Und begnügt sich mit einer nahezu reflexionsfreien Phänomenologie. Liebevoll erinnert sie sich an die Zeiten als die Tintenpatronen noch Heiko und nicht Pelikan hießen. So entgleist ein interessanter Versuch historischer Selbstbehauptung. Mit dem Goethe-Motto "Man sehe nicht hinter die Phänomene, sie selbst sind die Lehre" kann man auch ziemlich ins Leere laufen.Trotzdem ist Hensels Buch ein aufschlussreiches Indiz für ein gespaltenes Bewusstsein. Ihresgleichen nennt sie "zwittrige Ostwestkinder". Obwohl sie sich Zeit ihres kurzen DDR-Lebens an Westprodukten orientierten, haben sie nach der Wende plötzlich Distinktionsprobleme. Ihre Freundinnen aus München oder Stuttgart können Markenartikel und Second-Hand-Klamotten viel leichthändiger kombinieren. Doch sie werden wohl Zeit ihres Lebens die unbeholfenen Geschmacksstoffel aus der Zone bleiben. Im neuen Deutschland werden sie sicher nie ankommen. Doch ganz so neu ist diese schwindelerregende Übergangs-Psyche nun nicht. Schon Ende der achtziger Jahre, so erinnerte sich jüngst der 1941 bei Leipzig geborene Landsmann und Büchner-Preisträger, Wolfgang Hilbig, hatte er ähnliche Gefühle: "Ja, ich war so dazwischen, zwischen den beiden Ländern. Ich merkte, die DDR gehört nicht mehr zu mir, der Westen aber auch nicht." Wer sich von Nelson Mandelas Gesundheit bis zu den Senioren der Volkssolidarität für alles verantwortlich fühlen musste, was ihn eigentlich nichts anging, dem wird man nicht verdenken, dass ihm Politik und Engagement verdächtig geworden sind. Trotz des Übergangs ins postpolitische Ungefähr sieht sich Hensel aber durchaus als kritische Beobachterin der neuen Verhältnisse. Sie bekennt zwar, sich ans System angepasst zu haben. Aber irgendwie steht sie als Ost-West-Zwitter doch außen vor. Und von dem coolen Desinteresse, mit dem einer wie Florian Illies so penetrant an der "Zone" vorbeiguckt, will sie sich schon unterscheiden. Doch gerade in dem Moment, wo die "Generation Golf" mit ihrer historischen Naivität und dem eleganten Plädoyer für die Oberfläche der Geschichte ernsthaft ins Trudeln kommt, will Hensel sie nun imitieren. Von der Archivierung der Dingwelt bis zum Tonfall der Kindererzählung ist bei ihr alles vorhanden, was die scheinnaiven Popkameraden West auch so lieben. Nur an Larmoyanz übertrifft sie sie um Längen. Hensel schielt zu sehr nach dem Kultbuch. Sie hängt sich an die Inflation der selbstkonstruierten "Generationen" nach 1989. Melancholisch fordert sie das Recht auf eine eigene Geschichte ein. Dass der Setzkasten der Erinnerung nicht einseitig bestückt wird, ist eine berechtigte Forderung. Doch wird die Umwertung und Ausblendung der Nachwendezeit rückgängig gemacht, wenn man die sorgsam gereinigten Exponate Pop-Gymnastik, Pioniernachmittag und FRÖSI (Fröhlich sein und singen) so beziehungslos hineinstellt? Hensel kommt aus einem Zwiespalt nicht heraus. Einerseits nennt sie die DDR "fast liebevoll" die Zone: "langsam fühlen wir uns darin wie zu Hause". Andererseits sieht sie sie immer mehr wie "im Rückspiegel". Sie führt das Leben der "Abschiede" und "Brüche" ins Feld, eine biographische Prägung, die Wolfgang Engler oder Friedrich Dieckmann mit dem Begriff der "Avantgarde des Scheiterns" schon einmal besser getroffen haben. Doch was daraus für das neue Deutschland folgt, das ja nun unweigerlich da ist, das wäre die eigentlich spannende Frage.Stattdessen verfällt sie dem Nippes. Wie Hensel die DDR nachträglich als Warenparadies aufruft und Trommel mit Bravo, Schulschnitte mit Milchschnitte gleichstellt, unterwirft sie das Andere, das sie vor dem Vergessen und der Vereinnahmung retten wollte, ex post der Logik der Ware West. Das ist die Ironie ihrer verständlichen Klage über das unerklärliche Ende einer rührenden Geschichte.Jana Hensel: Zonenkinder. Rowohlt-Verlag, Reinbek bei Hamburg 2002, 172 S., 14,90 EUR
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