Das ist der Stoff, aus der das Genre "Fantasy" gemacht ist: Ein schwarzer Schatten legt sich über die Welt, ausgehend von einer dunklen Festung, in der das Böse haust, das einen Namen trägt und doch aus Scheu meist ungenannt bleibt. Die in seinen Bann geraten, verlieren den eigenen Willen und werden zu Handlangern einer fremden Macht, die langsam aber sicher ihre Persönlichkeit auslöscht und sie zu Geistern ihrer selbst werden lässt. Alle Empfindungen außer denen der Angst und Unruhe stumpfen ab, je näher man dieser Schattenwelt kommt. Das wirksamste Gift dieser unheimlichen Macht ist jedoch die zweifache Verführung - einmal zur Selbstüberschätzung und zum anderen zur tiefen Verzweiflung.
"Fantasy" ist das Genre der erdachten Welten, di
Welten, die im Gegensatz zur Science fiction rückwärts in eine unbekannte und unbestimmte Vergangenheit projiziert sind. Im Falle vom Herr der Ringe sind es die fantasischen Landschaften der "Mittelerde", die klangvolle Namen wie Düsterwald, Gondor und Moria tragen und von Menschen, Hobbits, Zauberen, Elben, Orks und noch vielen weiteren fabelhaften Wesen bevölkert werden. Nicht allein die Tatsache, dass das Böse hier im Osten liegt und das Gute aus dem Westen kommt, hat schon manche Interpretation des Herrn der Ringe hervorgerufen, die hinter der phantasischen Verkleidung unbedingt die Parabel auf Geschehnisse des 20. Jahrhunderts sehen will. Der Autor J.R.R. Tolkien hat sich gegen solche Interpretationen und irritierenderweise vor allem gegen die, sein Buch handle eigentlich vom Kampf gegen den Faschismus, stets verwahrt. Er hat darauf bestanden, dass es sich um ein "Fantasy"-Produkt handelt.Sucht man nicht nach aktuellen Bezügen - und das ist beim Herr der Ringe gar nicht so einfach, weil in Tolkiens Welt alles irgendwie an etwas erinnert, das man einst zu wissen glaubte, egal ob aus der Märchenonkelzeit oder dem Schulunterreicht - entdeckt man andere Verweise, die den langanhaltenden Erfolg des "Kultbuches" vielleicht erklären könnten: Als Mischung aus Märchen, Sage und Schauerroman spielt Der Herr der Ringe gewissermaßen weniger in einer zum Mythos verkleideten "Realwelt" als vielmehr in einer Seelenlandschaft. Und in der droht ganz deutlich die depressive Verstimmung.Viele Fantasyromane lassen sich so lesen: als Abhandlungen über Depression. Die narrativen Möglichkeiten des Genres erlauben jene "phantastischen", irrationalen Lösungen, die das depressive Subjekt braucht, um herauszufinden aus Tunnelblick und schwarzen Löchern. Kein Wunder also, dass auch Leser in depressiver Verstimmung besonders empfänglich sind für Erzählungen, in denen es um Weltherrschaft geht, um den Kampf von Gut gegen Böse, um gänzlich unironisch ausgelebte Allmachtsphantasien. Auf der anderen Seite vermögen Fantasyromane selbst in depressive Zustände zu versetzen. Wer den Herr der Ringe noch nicht gelesen hat, kann das im Selbstexperiment erproben: Wie man für Tage das Interesse an der realen Welt verliert, in das kindliche Stadium des Unter-der-Bettdecke-lesens zurückverfällt und mit höchster Anspannung dem Ende entgegenfiebert. Nach der Lektüre fühlt man sich dafür wie an einem kalten unwirtlichen Morgen am Tag nach einem üppigen Festmahl - dem realen Alltag nicht mehr recht gewachsen und voll Scham darüber, dass man sich dermaßen hat einlullen lassen.Nicht umsonst aber boten bereits die Vorläufer des Fantasy-Genres, die Erzählungen E.T.A. Hoffmanns oder auch die "Gothic Novel" willkommenen Interpretationsstoff für die Entdecker der Psychoanalyse. In den metapherngleichen Traumgestalten und den unwirklichen Geschehnissen fanden sie, in verfremdeter und verdichteter Form, die Bebilderung jener Konflikte, die erst in der Therapeutensprache auf den Begriff gebracht werden konnten: Ambivalenz und Größenwahn, Minderwertigkeitskomplex und Doublebind.Zum Standardprogramm des Fernsehens zur Weihnachtszeit, die trotz allen Lichtzaubers und Zuckerwerks auch eine große Zeit für Depressionen ist, gehören zwei Filme, die zwar der "harmlosen" Variante des Fantasy-Genres zuzuzählen sind, und trotzdem das Thema der Depression zentral setzen. Das ist zum einen der Klassiker von Frank Capra Ist das Leben nicht schön?, in der sich ein Engel namens Clarence seine Flügel erst verdienen muss, indem er den von James Stewart gespielten Selbstmörder durch eine Therapie führt, die darin besteht, dessen Leben noch einmal Revue passieren zu lassen und aufzuzeigen, dass wer so viel Gutes für seine Umwelt getan hat, keinen Grund zu Depression hat. Die Therapie schlägt an. Wo der Capra-Film noch einfache Tröstungen anbietet, enthält der zweite Kassiker der leichten Fantasy-komödie, Und täglich grüßt das Murmeltier von Harold Ramis weit komplexere Einsichten in das Wesen der Depression. Die Klage eines Depressiven - "Du wachst auf und jeder Tag ist derselbe wie der vorherige" - wird hier als filmische Handlung ganz wörtlich genommen. Die verschiedenen, bis zuletzt immer wieder scheiternden Versuche der Hauptperson, sich aus der Zeitschlaufe herauszukämpfen, addieren sich am Ende doch noch zu einer Erfahrung, die die Grausamkeit des fantastischen Schicksalspruchs durchbrechen kann: Es ist die konsequente Arbeit an sich selbst, die ihn vom Gleich der Tage erlöst. Eine Arbeit, die der von Sysiphos ähnelt und in der genau die tragfähige Mitte zwischen den Extrempolen gefunden werden muss, der Selbstüberschätzung, dem Größenwahn auf der einen und der Verzweiflung, der Absage an die Welt auf der anderen.Von dieser Lektion zwischen Hybris und Erstarrung, zwischen Anmaßung und Verzweiflung handelt in gewisser Weise wie eingangs angedeutet auch der Herr der Ringe. Für alle Figuren, egal ob Menschen, Elben, Hobbits oder Zauberer geht es darum, der Versuchung der Macht zu widerstehen: dem Ring. Der verspricht, alle Wünsche der Selbstentfaltung und -vergrößerung zu erfüllen. Dem widerspricht jedoch das Erfahrungswissen, dass die Erfüllung dieses Traums die Selbstzerstörung bedeuten würde. Mit wenigen Ausnahmen bestehen die Tolkienschen Phantasiegestalten diese schwere Prüfung und schließen sich zusammen, den Verursacher der Versuchung aus der Welt zu treiben.Diese Tolkiensche Welt mit ihren edlen Zauberwesen und bösen Chimären wäre ziemlich unerträglich, wenn er nicht die idealen Mittler zwischen den idolisierten Helden und dem abgrundtiefen Bösen erfunden hätte, Gestalten, die sogar ein bisschen Ironie in die ansonsten ironiefreie Welt der "Mittelerde" hineinbringen: die Hobbits.In den kleinwüchsigen Hobbits mit ihren großen behaarten Füßen und der Liebe zum Gärtnern ist unschwer eine Karikatur der Briten in provinzieller Beschränktheit zu erkennen: ihre Heimat, das "Auenland" stellt eine Insel der "Diesseitigkeit" dar, selbst in höchster Not fällt es ihnen schwer, auf geregelte Mahlzeiten zu verzichten ("Und was ist mit dem zweiten Frühstück und dem Elfuhrimbiss, dem Mittagessen, dem Vieruhrtee und dem Abendessen und dem Nachtmahl?" fragt ein Hobbit im Film auf der ersten Flucht vor den schwarzen Reitern). Sie sind völlig irdische Gestalten, die das Leben mittels ganz und gar weltlicher Traditionen bewältigen und deren Streben auf so unmittelbare Leibgenüsse wie Biertrinken und Pfeiferauchen und kaum darüber hinaus gerichtet ist.Solchermaßen den Inbegriff an Bodenständigkeit darstellend, sind die Hobbits am besten von allen Einwohner Mittelerdes gegen die Anfechtung des Ringes der Macht und eben der Depression gefeit. Die durch Lebensart gewährleistete Immunität gegen Verzweiflungsanfälle auf der einen und den Versuchungen des Größenwahns auf der anderen prädestiniert deshalb auch die Hauptfigur des Hobbits Frodo für die schwere Mission ins Herz der Finsternis. Symbolischerweise muss nämlich der Ring am Ort seiner Entstehung vernichtet werden - auch das ein therapeutischer Topos: zurück zu den Ursprüngen, um sich von ihnen zu befreien.So handelt der Herr der Ringe wenn man so will vom Wesen des Manisch-Depressiven und seiner Überwindung durch die Bodenständigkeit. Obwohl am Ende alle sagenhaften Königreiche restauriert werden, gibt es im idyllischen Auenland, der Heimat der Hobbits, einen demokratischen Aufstand, an dessen friedlichem Ende der alte Bürgermeister wieder eingesetzt wird, der die anderen am wenigsten stört. Auf diesen schönen antidepressiven Ausgleich müssen die Kinogänger nun noch ganze zwei Jahre warten, bis der dritte Teil der Trilogie in die Kinos kommt.
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