Der Sound des Rollfelds

Berlin Das neue Album der Einstürzenden Neubauten ist ein langer Spaziergang durch 
eine Stadt voller Legenden
Ausgabe 20/2020

Soziologin Martina Löw weiß, was „die Stadt“ ist, nämlich: „eine schichtspezifische Syntheseleistung.“ Damit meint sie, dass Urbanität erst durch bestimmte Handlungen hergestellt wird. So konstituiert sich das Städtische durch das Neben- und Miteinander von Politik und Wirtschaft, Historischem und kulturellen Artefakten, die im Raum der Stadt permanent neu angeordnet und verhandelt werden – Löw verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff der Eigenlogik. In besonderem Maße konstituierend für die städtische Eigenlogik Berlins sind die Jahre der Teilung, die bis in die Gegenwart nachwirken. Im damaligen Ost-Berlin formiert sich der Widerstand gegen den diktatorischen Überwachungsstaat, West-Berlin wird Enklave verschiedener Subkulturen: Hausbesetzer, Wehrpflichtverweigerer, Anarchos, Punks und Drogenabhängige bereiten den Boden für eine Avantgarde, für „Geniale Dilletanten“.

Die Band Einstürzende Neubauten, die sich 1980 rund um Blixa Bargeld formierte, hörte den Sound dieser Stadt und begann mit ihm zu experimentieren.

Vorbei am Eden-Hotel

Die Stücke des ersten Studioalbums der Band, Kollaps (1981), heißen beispielsweise Draußen ist Feindlich, Abstieg & Zerfall oder Hirnsäge; zu hören sind Schlagbohrer, selbst gebaute Objekte aus Schrott und Bargelds verzerrte, kreischende Stimme – das Album klingt wie ein intonierter Drogenentzug. Dieser Affront gegen etablierte Hörgewohnheiten – man denke an das popmusikalische Grundrauschen der späten 1970er und frühen 1980er Jahre – markiert das Besondere, das Geniale, das Avantgardistische, das die musikalische Entwicklung der Band seither charakterisiert. Vierzig Jahre nach der Gründung der Band und in inzwischen erweiterter und veränderter Besetzung erscheint nun ihr elftes reguläres Studioalbum, das zehn neue Stücke umfasst.

Alles in Allem ist ein Streifzug durch West-Berlin und dessen Geschichte(n). Beim Hören des Albums ist es, als folge man Blixa Bargeld durch die Stadt; am Landwehrkanal entlang, dorthin, wo das legendäre Eden-Hotel stand, in dem sich Künstler und Schriftsteller wie Heinrich Mann, Max Beckmann oder Erich Maria Remarque trafen, um auf dem Dach Minigolf zu spielen: dann zur Lichtensteinbrücke, wo Rosa Luxemburg nach ihrer Ermordung ins Wasser geworfen wurde. In Schöneberg flaniert Bargeld „vom Trümmerberg bis zur Stadtautobahn“, durch Luftschutzkeller und Waschküchen, schaut zu, wie ein Selbstmörder mit dem Gasherd ein Loch in die Fassade eines Hauses sprengt, und spaziert weiter nach Friedenau. „Von Mitte aus nach Norden“ und vom „Osten in den Westen“ geht es in den Wedding, und schließlich nach Tempelhof, auf das Flughafengelände – „Am Rand des Rollfelds / Auf den Tarmac / Hier komme ich abhanden.“

Trennschleifer sind selten

Auf diese Art und Weise kann man während des Hörens miterleben, wie Bargelds Stimme einen ganz eigenen Stadtraum Berlins baut: Der gebürtige West-Berliner bedient sich persönlicher und kollektiver Erinnerungen, die in der Stadt zirkulieren, und montiert sie zu einer urbanen Collage, die gleichzeitig eine Art Biografie der großen Stadt ist. Gleichzeitig folgt man einer Suchbewegung; einem Nachforschen danach, wie das damals alles war. Und wo. Was davon geblieben ist. Und was an Neuem hinzugekommen ist.

Die Bewegungsfigur des Forschens taucht auch in der Musik auf. Die Perkussionisten N. U. Unruh und Rudolf Moser zerlegen nur noch selten Einkaufswagen mit dem Trennschleifer oder bearbeiten Metallteile mit dem Presslufthammer; stattdessen liefern PVC- und Metallrohre oder eine „Bassfeder“ genannte ehemalige Zugfeder, die die Panzerglastrennscheibe eines Taxis abfederte, den Rhythmus, den Alexander Hackes Bass und Jochen Arbeits Gitarre aufnehmen und weiterverarbeiten.

Die Relikte und Artefakte des Städtischen – es wird erzählt, dass N. U. Unruh die Bestandteile seiner selbst entworfenen Instrumente mit Vorliebe von Berliner Großbaustellen klaut(e) – werden zum maßgeblichen Bestandteil der Musik der Einstürzenden Neubauten und so zum Teil des Berliner Stadtraums, der sich über die Jahre genauso verändert hat wie der Klang der Band. Das grandiose Album Alles in Allem wird man zukünftig – so wie die Berlin-Trilogie David Bowies – als einen akustischen Teil Berlins begreifen müssen – und unbedingt als einen der herausragendsten.

Info

Einstürzende Neubauten Alles in Allem erscheint am 15.05.2020 auf dem Label Potomak, Vinyl: 25 €, CD 18 €

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