Was für Entdeckungen noch heute in einem über die Jahrzehnte so stark frequentierten Archiv wie dem Brecht-Archiv zu machen sind, offenbart der Bild-Text-Band Ruth Berlau. Fotografin an Brechts Seite, der als schöne Erinnerung und zum würdigen Gedenken an die vor 30 Jahren am 15. Januar 1974 verstorbene Schauspielerin, Regisseurin, "Aufschreiberin" und Fotografin erschienen ist. Der Buch- und Plakatgestalter, Fotograf und Bühnenbildner Grischa Meyer hat diesen kulturhistorischen Schatz während seiner Tätigkeit als künstlerischer Mitarbeiter am Berliner Ensemble in den neunziger Jahren gesichtet und gehoben.
Er fördert aus 235 Mappen mit Rohabzügen und Negativen von unzähligen Kleinbildfilmen einige Dutzend Fotos zu tage, die erstmals be
, die erstmals belegen, dass hier ein eigenständiges fotografisches Werk im Verborgenen schlummerte, dessen Funktionsbestimmung mit "Fotografin an Brechts Seite" zu kurz greift.Sicher war Ruth Berlaus Rolle als Theaterfotografin der Brechtschen Inszenierungen seit der USA-Zeit, aber vor allem danach bekannt, ihre mit großem Aufwand hergestellten legendären Foto-Modell-Bücher (Antigone, Mutter Courage und ihre Kinder, Galileo, Carrar) von der Brecht-Forschung sowie von den Theaterleuten vielfältig genutzt. Und spätestens seit Hans Bunges einzigartiger Edition Brechts Lai-Tu. Erinnerungen und Notate von Ruth Berlau" (Berlin 1987), konnte man wissen, dass sie damit als "Begründerin des Brecht-Archivs und als Dokumentaristin seiner Theaterarbeit" eine "singuläre Stellung unter Brechts Mitarbeiterinnen" eingenommen hat. Bunge hatte seinem auf der Grundlage von Interwies mit Ruth Berlau im Jahre 1959 erarbeiteten Band zahlreiche, darunter viele bis dahin unbekannte Fotos beigegeben, die sich vor allem auf Berlaus Beziehung zu Brecht, seine Biografie und sein Werk konzentrierten.Auch in diesem Text beschreibt Berlau ihre Fotoarbeit in erster Linie als komplexe Dienstleistung für Brecht, der im amerikanischen Exil in der fotografischen Sicherung seiner Manuskripte sowie den fotografisch festgehaltenen Inszenierungen eine für sein Werk substanzielle Angelegenheit auf dem ihm stets wichtigen höchstem technischen Standard erkannt hatte. Einen Eindruck, um welch eine Kärrnerarbeit es sich da im einzelnen gehandelt hat, bekommen wir, wenn Berlau von ihren über 3.000 Fotos der Laughtonschen Galileo-Inszenierung in New York 1947 berichtet und Brecht immer noch fehlende Szenen anmahnt. Woraufhin sie mit einer für ihr letztes Geld erworbenen Schmalfilmkamera die ganze Vorstellung filmte.Was wir jetzt dank Grischa Meyers aufwändiger und verdienstvoller archivalischer Rekonstruktionsarbeit, unterstützt von Manuela Runge, vor uns haben, gestattet demgegenüber und darüber hinaus einen Einblick in ein durchaus eigenständiges sozialfotografisches Werk, das sich in seinen journalistischen Ursprüngen höchst produktiv erweist. Denn die "rote Ruth" war mit spektakulären Reportage-Reisen von Kopenhagen aus per Fahrrad nach Paris 1928 und Moskau 1930 publizistisch bekannt geworden. Seit 1930 Mitglied der dänischen KP hatte sie in dem von ihr begründeten "Revolutionären Theater", einer Laienspieltruppe von Matrosen und Arbeitern, ihren sozialen Blick geschult, den sie fortan vor allem im amerikanischen Exil, Juli 1941 bis Januar 1948, aber auch im zerstörten Nachkriegsdeutschland und der jungen DDR beibehält und der erst jetzt für uns erstmals so aufregend einsehbar ist.Es macht den besonderen Reiz des vorliegenden Bandes aus, dass er die ausgewählten, meist mit einer Leica gemachten, Fotos in "möglichst ungeschönter Form" wiedergibt: "technische Mängel und Spuren der Zeit sollten sichtbar bleiben". So wird es für den Betrachter möglich, sowohl die historische Aura (etwa in der Braunstichigkeit) wie den besonderen Zugriff der Fotografin zu erkennen, der vorrangig auf das Dokumentarische, Inhaltliche und weniger auf die formale, technische Perfektion gerichtet war. Letztere hatte sie sich in zwei dreimonatigen Fotokursen 1944 anzueignen gesucht, angetrieben vor allem von Brechts Auftrag, sein Werk technisch auf die "kleinste Größe" zu bringen. All dies hatte sie unter Bedingungen finanzieller Bedrängnis und technisch provisorischer Dunkelkammern in Kellern und Wandschränken zu bewältigen. Aber es hatte sich für sie wohl gelohnt, wenn Brecht ihr Ende 1947 "großartige Fotos" attestierte und sie in den Rang einer "Spezialistin" erhob.Neben zahlreichen bisher unbekannten Fotos von Brecht und seinen Freunden im amerikanischen Exil lassen besonders ihre Bilder dänischer Matrosen, streikender amerikanischer LKW-Fahrer, von schwarzen und weißen Gewerkschaftern, von New Yorker Straßenarbeitern sowie von politischen Demonstrationen ihr dokumentarisches Interesse erkennen. Es sind kaum inszenierte Momentaufnahmen, auf denen der Fotografin meist freundlich entgegengeblickt wird. Und es sind Bilder von selbstbewussten Arbeitern, die eine souveräne Haltung ausstrahlen und von denen eine soziale Hoffnung ausgeht.Von ganz anderer Art sind die trostlosen Bilder aus einem Indianerdistrikt auf dem Weg von New York nach Hollywood, die sie kommentiert. "Amerikas erste Menschenkinder leben in Aberglaube, Dreck und tiefer Armut." Andere Bilder dieser Reise zeigen die Tristesse der amerikanischen Provinz mit ihren ökonomischen und landschaftlichen Verwerfungen. Der Arbeitslose, der auf einer sich aus Dosen auftürmenden Müllhalde nach Verwertbarem suchet, zeigt das andere, Hollywood abgewandte Gesicht von Amerika. Und den Gesichtern von weißen und schwarzen Frauen und Männern verschiedenen Alters auf einer New Yorker Demonstration nach Kriegsende im Herbst 1945 ist eine Frage deutlich eingeschrieben. "Wo sind unsere Jobs, und wo ist die Sicherheit eines dauerhaften Weltfriedens?" Die Folgen des Krieges halten ihre Aufnahmen der zerstörten Städte München und Berlin fest. "Ein ruiniertes Land mit ruinierten Menschen". Und doch blieb sie, die entwurzelte Dänin, wegen Brecht und der Arbeit für ihn. Aber froh wurde sie hier nicht, weil sich ihre Hoffnungen auf ein Zusammenleben mir Brecht nicht erfüllten.Der sorgfältig zusammengestellte Band, der auch unveröffentlichte Texte von Berlau enthält, macht neugierig auf weiteres aus der Fotowerkstatt dieser antifaschistischen Emigrantin. So ist es zwar bedauerlich, dass wir von Berlau selbst wenig Hilfestellung zur Erschließung derselben überliefert bekamen. Zugleich kann jedoch das "Fehlen einer von der Autorin vorgegebenen Sicht auf ihre eigene Arbeit" auch eine vielversprechende Chance sein beim weiteren Erschließen des in mancher Hinsicht "rätselhaft" und "unklar" bleibenden fotografischen Nachlasses. So arbeitsintensiv und penibel Ruthe Berlau alles mit Brecht zusammenhängende dokumentiert hat, so wenig hat sie sich, wie auch andere Mitarbeiterinnen von Brecht, um ihr eigenes Tun bekümmert. Von Natur aus eher spontan und aktionistisch, ausgestattet mit vielseitigen Talenten, die sie immer wieder in den Dienst von Brecht stellte anstatt ihre eigene Professionalität voranzutreiben, seit dem Exil psychisch und physisch angeschlagen, hat sie ihre fotografische, aber auch die publizistisch-literarische Produktion alles andere als geordnet oder gar systematisiert hinterlassen.Dabei zeigen auch die Forschungsergebnisse von Sabine Kebir, dass Umfang und Qualität ihrer Texte weit über das bisher Bekannte hinausgehen. Spätestens zu ihrem 100. Geburtstag im Jahre 2006 wünschte man sich, diese lesen zu können. Von der Berlau-Forschung ist also noch manche Überraschung zu erwarten.Grischa Meyer: Ruth Berlau. Fotografin an Brechts Seite. Mitarbeit: Manuela Runge, Propyläen, München 2003, 191 S., 39 EUR
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