Wer sich von einem Geheimdienst rekrutieren lassen will, der muss nicht mehr auf den Zufall warten. Einst, so berichtet der Jurist und Wirtschaftsforscher Jonathan Bloch, sprachen die Behörden in England noch potenzielle Agenten an den Universitäten an, besonders in Oxford und Cambridge, und arrangierten dann Treffen in obskuren Bürogebäuden. Man kennt das aus alten Agententhrillern. Heute wird offen über Radio und Fernsehen geworben, Webseiten informieren über Karrieremöglichkeiten, Headhunter suchen Talente.
Der Weg zu den Geheimdiensten ist also gar nicht mehr geheim, sondern so durchsichtig wie der moderne Mensch, den es meist wenig stört, wenn er sich in sozialen Netzwerken und durch den Gebrauch von Smartphones, längst anzapfbar per Spyware
er Spyware, immer gläserner macht. Die Privatsphäre ist ein Bereich, der leicht geknackt werden kann. Aber was hat man selbst schon großartig zu verbergen? Und möchte man nicht wissen, was in den Köpfen und Leben der anderen vorgeht?Experten des AlltagsDass in jedem von uns ein Spion steckt, behauptet der Konfliktforscher Kostas Tsetsos, allein deshalb, weil jeder Informationen sammelt, ständig, um einen Wettbewerbsvorteil zu erlangen oder zu wissen, ob eine „platonische Lüge“ angebracht ist. Solche Überlegungen und eine Handvoll Erzählungen, die tiefere Einblicke in die Umtriebe der Dienste geben, hört man über Kopfhörer. Informationslieferanten wie Kostas Tsetsos und Jonathan Bloch raunen gespensterhaft im Ohr, während der Blick über die als Statuen physisch greifbaren Geister der Vergangenheit streift.In Münchens Glyptothek, dem Museum für antike Skulpturen, hat die Theatergruppe Rimini Protokoll Top Secret International (Staat 1) eingepflanzt – ihr erstes Projekt im Rahmen einer als Tetralogie geplanten Produktionsreihe rund ums heutige Staatenwesen. Das Museum wird dabei audio-theatralisch bespielt, passend zum postdramatischen Konzept des Kollektivs, die Grenzen zwischen Bühne und Stadtraum, zwischen Darstellern und Zuschauern möglichst aufzulösen, um das Theatererlebnis nahe zu bringen. Weniger mit Schauspielern, sondern mit „Experten des Alltags“ bekommt man es bei Rimini Protokoll zu tun: Das in Gießen ausgebildete Trio Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel bringt Wissenschaftler, Künstler und Normalos auf die Bühne, die ihre Erkenntnisgewinne zum jeweiligen Thema großzügig zur Verfügung stellen: die gewollte Transparenz.Mangelt es manchen Laien an Bühnenpräsenz, so stellt sich dieses Problem beim Geheimdienst-Projekt nicht: Hier hört man die Experten auf der Soundspur, darunter der ehemalige israelische Botschafter in Deutschland, Avi Primor, Ex-BND-Präsident Gerhard Schindler oder Ex-CIA-Mitarbeiter John Kiriakaou, sowie ein Computer und die Stimmen einzelner Ensemblemitglieder der Kammerspiele: eine heterogene, den Zuhörer fordernde Gemeinschaft der konspirativen Einsager.Einer der Sprecher gibt zwischendurch seine Identität preis: Peter Brombacher von den Kammerspielen erzählt, dass er schon seit 54 Jahren Theater spielt. Eine beachtliche Karriere: der Schauspieler als jahrzehntelanger Spion, der die Realität bespitzeln muss, um, zumindest im Theater traditionellen Zuschnitts, glaubwürdig in verschiedene Rollen schlüpfen zu können. Auch der Museumsgast soll sich als aktiver Spieler fühlen: Neben dem Kopfhörer wird man mit einem Notizbuch ausgestattet, in dem ein Smartphone versteckt ist. In den Räumen verteilte Holzkästen orten die Handys, wodurch die Audio-Files je nach Lage des Besuchers abgespielt werden. Das Notizbuch soll gleichzeitig dazu einladen, Beobachtungen festzuhalten, Zeichnungen anzufertigen – Abbilder der Realität im Museum, das hier zur Schaubühne für angehende Agenten aufgeladen wird.Wie es um deren moralische Ausstattung beschaffen ist, wird mittels eingestreuter Ja-oder-Nein-Fragen beleuchtet, deren Beantwortung den weiteren Parcours beeinflusst. Da wird man gefragt, ob man eine E-Mail auf dem Laptop des Lebenspartners in dessen Abwesenheit lesen würde. Antwortet man mit Nein, erzählt Eric Rabe, Sprecher der Firma Hacking Team mit Sitz in Italien und Washington D. C., wie sein Arbeitgeber im Auftrag des US-Heimatschutzministeriums und anderer Behörden Trojaner entwickelt, mit denen Computer und Telefone abgehört werden können. Rabe findet es legitim, dass ein Staat die Aktivitäten verdächtiger Leute überwacht. Und gesteht ein, dass Hacking Team selbst gehackt wurde. Jeder kann die Software auf dem Schwarzmarkt erwerben.Lesen und vernichtenIm Lauf des Parcours erfährt man von diversen Rekrutierungsmaßnahmen, einem BND-Einsatz in Libyen oder bekommt von William Binney, ehemals technischer Direktor der NSA, heute Whistleblower, erklärt, dass 80 Prozent des Glasfasernetzes innerhalb der USA verlegt sind oder durch sie verlaufen, wodurch deren „Heimvorteil“ in Sachen Überwachung entsteht. Mitunter krampfhaft stellen die Stimmen Bezüge zu den Statuen der Glyptothek her, etwa dem Barberinischen Faun oder Herrscher Marc Aurel. Gegenüber von Platons Kopf wird von der Opposition des Philosophen zum Staat berichtet: Platon glaubte gar an Wahrheiten, „die nicht von der Macht verändert werden können“.Doch kann man sich dem Einfluss der Geheimdienste entziehen? Der Weg führt zu einem heimlichen Informationsaustausch mit einem anderen Besucher im Café der Glyptothek, gegen Ende ins Untergeschoss zu den Toiletten, wo man die erhaltene private Information in einer Kabine lesen und vernichten kann. Ganz für sich, ganz sicher? Am Ende fasst die Computerstimme alle Entscheidungen, die man während der Museumsreise getroffen hat, zusammen. Nichts geht verloren, und als Sahnehäubchen erhält der Besucher am Schluss ein Anmeldeformular für den BND. Wer also zum Geheimdienst will, der muss nicht mehr auf den Zufall warten. Ab ins Internet. Oder in die Münchner Glyptothek, wo man ein wenig Agent spielen darf und vielleicht auf den Geschmack kommt.Placeholder infobox-1
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