Der Staat ist keine Familie

Im Gespräch Der "Wirtschaftsweise" Peter Bofinger über die geistige Armut in einem reichen Land

FREITAG: In Ihrem neuen Buch "Wir sind besser als wir glauben" kritisieren Sie die Hysterie der wirtschaftspolitischen Diskussion in Deutschland. Was läuft falsch in diesem Land, insbesondere wenn es um die Schuldenfrage geht?
PETER BOFINGER: Verglichen mit den USA, wo die Schuldensituation der unsrigen ähnlich ist, sind die Menschen dort gelassener. Dabei ist die Auslandsverschuldung der USA ein viel größeres Problem als unsere Inlandsverschuldung. Während die Vereinigten Staaten ein hohes Leistungsbilanzdefizit aufweisen, haben wir einen sehr hohen Leistungsbilanzüberschuss. Wenn hier immer gesagt wird, jeder Säugling kommt mit 18.500 Euro Schulden zur Welt, wird unterschlagen, dass dem der gleiche Betrag an Staatsanleihen gegenübersteht. Dieses "wir müssen sparen" artet zum Kult aus, und alle orientieren sich an der wenig durchdachten "Geiz-ist-geil-Mentalität". Die Staatsverschuldung darf man zwar nicht aus den Augen verlieren, doch viel wichtiger ist, was in Sach- und Humankapital investiert wird. Die zukünftige Generation lebt davon, wie unsere Infrastruktur ausgestattet ist und was sie in den Köpfen hat.

Das scheint naheliegend, wird aber nicht hinreichend beachtet, weil - so die Begründung - der bereits erreichte Stand der öffentlichen Verschuldung das nicht zulässt.
Die meisten Kommentatoren des Wirtschaftsgeschehens reden aus der Sicht des Einzelhaushaltes einer durchschnittlichen Familie. Kommt diese Familie mit ihrem Finanzbudget nicht zurecht, wird der Haushalt mit einem Sparprogramm wieder ins Lot gebracht. Das ist auch vernünftig. Journalisten und Politiker übertragen eine solche Situation gerne auf den Staat, und damit scheint die Lösung des Problems sehr einfach. So ist es aber nicht, weil der Staat anders funktioniert als ein Einzelhaushalt. Die Einnahmen einer Familie werden unabhängig von den Ausgaben erzielt. Dagegen schlagen die Ausgabenkürzungen des Staates auch auf der Einnahmenseite zu Buche. Den meisten Menschen ist nicht klar, dass der Staat weniger einnimmt, wenn er spart. Deshalb meinen sie, wenn Finanzminister Hans Eichel noch mehr sparen würde, bekäme er auch sein Budget in den Griff. So hören wir das bei der Haushaltsdebatte, fast jeden Sonntag bei Sabine Christiansen und lesen es in den Zeitungen. Dass Eichels Sparkurs Rückwirkungen auf die konjunkturelle Lage und damit auch auf die Einnahmesituation und auch auf die Ausgaben für Arbeitslose hat, das lassen die Leute außen vor. Doch genau hier liegt der fundamentale Unterschied zum privaten Haushalt...

.. und zum privaten Unternehmen.
Aus Sicht des Privathaushaltes sind Schulden etwas Schlechtes. Doch aus Sicht eines Unternehmens sind Schulden gar nicht so schlecht. Es kommt ganz darauf an, was das Unternehmen mit seinen Schulden macht. Nimmt ein Unternehmer zum Bau einer neuen Produktionsanlage einen Kredit auf, um wettbewerbsfähig zu bleiben, wäre es falsch, diese Schulden nicht zu machen. Nimmt er hingegen Geld auf, um sich einen neuen Porsche zu kaufen, hat das Unternehmen höhere Zinslasten. Das ist schlecht, weil das Kapital nicht in die Produktivität investiert wurde.

Wer investiert, braucht Märkte, also zahlungsfähige Kunden. Sie haben kürzlich gesagt, es wäre sinnvoll, die Löhne und Gehälter um real drei Prozent zu erhöhen. Im Moment ist niemand zu sehen, der eine solche Forderung durchsetzen könnte.
Wenn Unternehmen stolz darauf sind, dass sie einige Nullrunden gefahren haben oder die Arbeitszeit verlängert wurde, was ja auch eine Form der Lohnsenkung ist, dann ist das genau so, als wenn ein Bauer stolz darauf ist, dass er seiner Kuh weniger Futter gibt und sich dann über die schlechte Milchleistung wundert. Das ist kein Gedanke von mir. "Wer meine Auffassung kennt, weiß, dass zu dieser Konzeption als wesentliches Element eine freizügige Lohnentwicklung gehört", sagte Ludwig Erhard, und er sagte auch, der offene Widerstand der Arbeitgeber gegen Lohnerhöhungen passe nicht in das System der Marktwirtschaft. Es reicht eben nicht aus, nur Gewinne zu machen. Das gesamte System muss organisch wachsen. Und wenn Unternehmen mit ihren Gewinnen nur Aktionäre bedienen und Kredite abbezahlen, haben weder der Staat noch der Arbeitnehmer etwas davon.

Was für Staat und Beschäftigte gut ist, interessiert die Unternehmen nicht. Sie drohen mit Abwanderung, wenn ihnen die Löhne nicht passen.
Da sehe ich nur eine Möglichkeit: den Drohungen etwas furchtloser entgegenschauen, es ruhig auch mal drauf ankommen lassen, wenn Unternehmen mit Abwanderung drohen. Wenn ein Unternehmen nach Osteuropa abwandern möchte, weil da die Löhne nur ein Zehntel der hiesigen betragen, bleibt es nicht hier, wenn die Löhne um ein Prozent gesenkt werden. Im Übrigen haben wir im gesamten "alten Europa" hohe Löhne. Wenn alle auf die Idee kämen, nach Osteuropa zu gehen, bekämen wir sehr schnell eine Angleichung der Löhne, und der Spuk wäre vorbei. Es stimmt auch nicht, dass wir Exportweltmeister bei den Arbeitsplätzen sind. Alle verfügbaren Zahlen belegen, dass nur sehr wenige Arbeitsplätze ins Ausland verlagert werden. Hier wird maßlos übertrieben. Deshalb sollten vor allem die Gewerkschaften mit den Drohungen gelassener umgehen. Ein Großteil der Direktinvestitionen im Ausland ist absatzorientiert. Ein Unternehmen geht also da hin, wo für sein Produkt ein Markt ist. Doch das schafft auch Arbeitsplätze im Inland. Man darf nicht bei jeder Auslandsinvestition in Panik verfallen. Bestes Beispiel ist die deutsche Automobilindustrie. In Deutschland sind Arbeitsplätze entstanden, obwohl Produktion verlagert wurde.

Trotzdem argumentieren Regierung wie Opposition, dass die Lohnkosten, insbesondere die Sozialabgaben, zu hoch sind, um langfristig wettbewerbsfähig zu sein.
Nicht die Lohnkosten, sondern die Auftragsbücher sind entscheidend, höre ich von vielen Unternehmern. Aber unser Problem besteht auch darin, dass sich der Staat über Sozialabgaben finanziert, und zwar in einem Maße, wie das kein anderer Staat tut. Diese Fehlernährung hat ihren Grund in der Finanzierung der Einheit über Sozialabgaben. Richtiger wäre es gewesen, die Einheit über Steuern zu finanzieren. Jetzt wird der Sozialstaat für etwas an den Pranger gestellt, für das er gar nichts kann. Die hohen Sozialabgaben sind nicht Ausdruck eines verschwenderischen Umgangs oder einer mangelnden Verantwortung der Versicherten. Die Politik hat den Sozialstaat missbraucht, um die Einheit zu finanzieren, das ist der Grund für die hohen Abgaben.

Und wie kann dieser Kreislauf durchbrochen werden?
Eine Lösung wäre, im Gesundheitssystem die Umverteilungskomponente da hin zu packen, wo sie hin gehört - ins Steuersystem. Insgesamt brauchen wir mehr Ordnungspolitik, so wie sie Ludwig Erhard gefordert hat. Dieses Reform-Stückwerk, mit dem Ziel, die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern und die Lohnnebenkosten zu senken, ist doch sehr mühsam. Und binnen weniger Wochen werden die geringen Einsparungen wegen der Wechselkursentwicklung wieder aufgefressen. Als Sofortmaßnahme schlage ich vor, die einseitig subventionierten 400-Euro-Jobs abzuschaffen. Die derzeit acht Millionen geringfügig entlohnten Beschäftigungsverhältnisse entsprechen zwei Millionen Vollzeitarbeitsplätzen.

Das Gespräch führte Günter Frech

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