FREITAG: Die UN sind nun ein halbes Jahr im Kosovo. Es finden Serbenverfolgungen statt, und das bisschen Verwaltung wird von der UÇK und ihren Nachfolgern und von der Republik Serbien erledigt. Was wäre eigentlich anders, wenn die UNO nicht hier wäre?
TOM KOENIGS: Es ist unglaublich viel passiert und völlig unvorstellbar, dass dieses Land nicht in Chaos und Verbrechen versunken wäre, wenn UNO und Kfor nicht hier wären. Wenn wir gerade jetzt eine Serie von Verbrechen haben, heißt das: Es gibt Grund genug, hier weiter zu sein. Wer glaubt, dass man eine Zivilgesellschaft, ein Mehrparteiensystem, eine geordnete rechtsstaatliche Verwaltung, eine multiethnische Gesellschaft oder eine nur halbwegs funktionierende Ökonomie in 100 Tagen aufbauen könnte, soll sich Bosnien ansehen oder die DDR, wo man um 400 Prozent bessere Ausgangschancen hatte.
Versinkt das Land denn etwa nicht im Verbrechen?
Nein, jedenfalls versuchen wir, alles dagegen zu tun. Die Polizei hat natürlich nicht die Stärke, wie wir uns das wünschen. Die Rekrutierung örtlicher Polizei geht leider zu langsam. Aber man kann einen Polizisten nicht in sechs Wochen backen.
Man hat 5.000 internationale Polizisten beantragt, jetzt sind es weniger als halb so viel.
Gerade die Staaten, die eine Beschleunigung herbeiführen könnten, fragen immer, warum es nicht schneller geht. Wenn man kein Geld hat, kann man nicht erwarten, dass es eine schlagkräftige Polizei gibt. Es ist aber auch ein Irrtum zu glauben, man könnte das Verbrechen mit 2.000 oder 3.000 Polizisten besiegen. Die Anzahl von Polizisten pro 1.000 Einwohner ist hier etwa halb so groß wie in Bayern. Außerdem sind wir hier nicht nur in einer Nachkriegsgesellschaft, sondern auch in einer nachsozialistischen Gesellschaft, und alle Probleme, die Russland oder Ostdeutschland haben, addieren sich hier mit einer Arbeitslosenrate von 85 Prozent.
Bei den Morden, die seit dem 14. Juni (Beginn der UNMIK - die Red.) passiert sind, kam es in einem einzigen Fall zu einer Anklage. Bei den über 70 Kirchenbrandstiftungen gab es keine einzige Verhaftung.
Ich weiß nicht, was Sie wollen.
Ich will wissen, warum es die UNO hier gibt. Dass es schwierig ist, verstehe ich auch.
Man muss die UNO haben, damit man Gerichte hat. Wir wollen örtliche Gerichte, keine internationale Gerichtsbarkeit. Die Richter haben sich lange Zeit damit beschäftigt, was eigentlich das geltende Recht ist. Das hat viel Zeit gekostet. Aber auch die Gerichtshöfe aufzubauen, ist eine Herkulesarbeit. Es hat zahlreiche Verhaftungen durch Militär und Polizei gegeben, es gibt auch zahlreiche Aufklärungen. Aber nehmen sie die Brandstiftungen: Da geht keiner zur Polizei und sagt aus - weder ein Serbe noch ein Albaner.
Natürlich nicht ...
Das ist überhaupt nicht natürlich! Das ist in Deutschland nicht so! - Am 28. November, dem sogenannten Flaggentag, hat eine aufgebrachte Menge einen serbischen Mann ermordet und zwei Frauen schwer verletzt. Es waren 2000 Menschen dabei. Glauben Sie, dass auch nur ein einziger danach zur Polizei gegangen wäre und gesagt hätte, was er gesehen hat? In dieser Lage Ermittlungen zum Erfolg zu bringen, ist sehr schwierig, einige hatten Erfolg. Wenn Sie sagen, dass kein einziger der Mörder festgenommen wurde, dann stimmt das einfach nicht.
Es ist in einem einzigen Fall zur Anklage gekommen und zur Verurteilung in keinem...
Das liegt daran, dass die Hauptverhandlungen in vielen Fällen noch nicht abgeschlossen sind - rechtsstaatliche Verfahren, die sich an europäischen Normen messen. Auch sonstwo in Europa ist nach drei Monaten kein einziges Mordverfahren abgeschlossen. Im übrigen führen die Ermittlungen bei Bränden häufig zu Jugendlichen und Kindern. Viele Verbrechen im Krieg sind vor den Augen der Kinder begangen worden. Die Zahl traumatisierter Kinder ist riesengroß. Und die Hälfte der Bevölkerung ist unter 20.
Hat die UNO vielleicht eine unmögliche Aufgabe übernommen?
Vielleicht eine Sisyphusaufgabe, aber keine, die man nicht hätte übernehmen sollen. Denn die Alternative, keine staatliche Gewalt aufzubauen und das jemandem zu überlassen, der sich vielleicht zuständig fühlt, hätte zu einem Massaker geführt.
Die Polizei hat noch nicht einmal eine Notrufnummer in serbischer Sprache eingerichtet ...
... Notrufnummern sind üblicherweise in keiner Sprache.
Die Nummern nicht. Aber die Leute, die sich unter der Nummer melden, sprechen Albanisch.
Die sich melden, wenn Sie die Notrufnummer anrufen, sprechen Albanisch oder Serbisch.
Ein Serbe, der anruft, sagt dem Albaner, der sich meldet, er möge jemanden holen, der mit ihm Serbisch spricht? - Die UNO aber sagt, sie bekämpft das Verbrechen. Das tut sie nicht.
Doch, das tut sie.
Die internationale Gemeinschaft hat im Kosovo interveniert, und jetzt geschehen hier unter den Augen der internationalen Vertreter weitere Verbrechen, diesmal an den Serben.
Sicher, jedes Verbrechen ist eines zuviel. Aber daraus zu schließen, dass die UN hier überflüssig wären, ist doch absurd! Natürlich müssen wir besser werden und erreichen, dass die politischen Führer und die Familienväter ihren Kindern und denen, die auf sie hören, immer wieder sagen: Das sind Verbrechen, arbeitet mit der Polizei zusammen! Nur sind auch die Politiker in diesem Lande eine solche Botschaft nicht gewöhnt.
Ohne die UN gäbe es hier ja kein Vakuum. Die UCK hat ihre Strukturen etabliert, und in den noch immer serbisch besiedelten Gebieten haben sich die administrativen Strukturen der Republik Serbien erhalten.
Es gibt Parallelstrukturen, aber die sind oft weder demokratisch noch rechtsstaatlich. Die Konkurrenz können wir nur meistern, wenn wir erstens eine nachhaltige und langfristige Unterstützung der internationalen Gemeinschaft haben, und zweitens, wenn wir die demokratischen Kräfte in diesem Lande gewinnen. Oft stellt man sich bei der UCK so etwas vor wie ein Einparteiensystem, wo dann Legislative, Exekutive und Judikative in einer Hand sind. Anders ist es in den vergangenen Jahrzehnte hier nicht gewesen. Wir verhandeln jetzt mit den politischen Kräften, um zu einer besseren, auch politisch-programmatischen Zusammenarbeit zu kommen. Wer im Moment da Schwierigkeiten macht, ist die Nachfolgeorganisation der UCK, die PPDK.
Die Resolution des Weltsicherheitsrats legt fest, dass die UNO die Verwaltung übernehmen muss, jetzt passt man sich aber an und legitimiert undemokratische Parallelstrukturen.
Das Mandat sagt beides: Aufsicht über bestehende Strukturen und - das war völlig neu für die UN - stufenweise eine Regierung aufzubauen und in eine substanzielle Autonomie zu überführen. Der Glaube, man könne hier schnelle Erfolge vorzeigen, war mehr vom Wunsch als von der Realität geprägt. Wir haben jetzt angefangen, Fahrzeuge zu registrieren, in den nächsten Tagen beginnen wir mit der Registratur der Personaldokumente. Das hat in anderen Missionen Jahre gedauert.
Die internationale Bereitschaft, Geld zu geben, kann mit den Notwendigkeiten offenbar nicht Schritt halten. Lehrer und Richter bekommen keine Gehälter, sondern sogenannte Stipendien ...
Natürlich ist es schwierig, die Finanzminister zu überzeugen, dass sie ein Defizit bezahlen müssen - und nicht Investitionen. Das ist etwa so, als wollte man das Defizit im Bundeshaushalt durch Schenkungen kompensieren. Hier liegt das Defizit bei 80 Prozent. Was die Stipendien angeht: Jeder deutsche Lehrer ist entsetzt, wenn er hört, dass hier ein Lehrer im Durchschnitt zwischen 220 und 270 Mark im Monat bekommt. Wir wollen aber nicht etwas aufbauen, das am Tag nach unserem Weggang zusammenbricht. Deshalb haben wir ausgerechnet, wieviel bei einigermaßen günstiger Entwicklung an Steuern denkbar wäre. Und aus dieser Prognose ergeben sich diese Gehälter.
Sie geben einem Polizisten 200 und einem Richter 300 Mark im Monat, von denen sie nicht leben können. Sie geben Ihnen aber die Macht. So züchtet man korrupte Strukturen.
Inwieweit Korruption und Bezahlung zusammen hängen, ist spätestens seit Max Weber strittig. Richtig ist, dass wir die Lehrer etwa so bezahlen, wie das auch in den Nachbarstaaten der Fall ist. Das tun wir. Die bestbezahlten Leute in diesem Land werden ab 1. Januar die Richter sein, weil man nicht erwarten kann, dass sich Richter wie Richter benehmen, wenn man sie nicht so behandelt.
Ein von der OSZE ausgebildeter serbischer Polizist bekommt von Ihnen 200 Mark und von der Republik Serbien 500 Mark. Entsteht da nicht ein Interessenkonflikt?
Es gibt Sektoren, wo einzelne Leute aus politischen Gründen bezahlt werden. Ich glaube aber, das wird weit überschätzt. Serbien selbst ist bettelarm, die können nicht einmal ihre eigenen Leute bezahlen. Was wir einem Polizisten hier bieten können, ist eine dauerhafte Beschäftigung zu einem Gehalt, das mit dem vergleichbar ist, was man in Mazedonien verdient. Der Kosovo ist eine der ärmsten Regionen in Europa und wird das auch in fünf Jahren noch sein.
Für die Minderheiten dürfte die Normalisierung zu spät kommen. Serben, Muslime, Roma, Juden, Kroaten gehen weg.
Ja, weil die Sicherheit sehr schwer zu gewährleisten ist. Es ist die Aufgabe besonders des Militärs, die Enklaven mit den Minderheiten zu schützen und auch eine gewisse Kommunikation möglich zu machen. Da sind wir noch nicht besonders weit ...
Wie weit werden Sie noch von ungeklärten Rechtsfragen zwischen Serbien und der UN-Verwaltung behindert?
Die Resolution des UN-Sicherheitsrats äußert sich nicht darüber, ob Kosovo unabhängig sein wird oder nicht. Die Albaner sagen einstimmig: Wir wollen die Unabhängigkeit. Alle Schritte in diese Richtung werden mit Applaus quittiert, zum Beispiel Personalausweise, eigene Nummernschilder, eine eigene Währung, selbst wenn es die D-Mark ist. Wo man zurückhaltend ist, etwa bei der Verstaatlichung von bisher serbischem Eigentum, setzt man sich in Widerspruch zu albanischen Kräften. Diese Widersprüche wird man aushalten müssen.
Hätten Sie einen einfacheren Job, wenn die Statusfrage geklärt wäre?
In einer Beziehung ja, wenn es so wäre wie in Ost-Timor, wo der UN-Kurs klar auf Unabhängigkeit fixiert ist. In einer anderen nicht, denn ob man bei einer solchen Orientierung im Kosovo Mazedonien stabilisiert, der Opposition in Serbien oder den Minderheiten hier einen Gefallen täte, wage ich zu bezweifeln.
Wenn Sie den Zustand des Kosovo vor Beginn des Bombardements am 24. März 1999 mit dem vergleichen, der jetzt erreicht ist: Hat sich der Aufwand gelohnt?
Zwischen dem 24. März und dem 12. Juni sind so viele Gräueltaten passiert, dass jede einzelne davon die massive Intervention gerechtfertigt hätte und hat...
... aber nachträglich, nachdem die Intervention begonnen hat!
Und was ist dazwischen?
Die Intervention.
Aber nicht nur. Das sind die Massaker hier, die kein Mensch vergessen hat. Vor dem 24. März hatten wir Apartheid mit zehn Morden pro Woche und die totale Unterdrückung einer gewaltigen Mehrheit. Vergleicht man das mit heute, kann man sich theoretisch Gedanken machen: Was wäre wenn?
Genau.
Aber da unterstellen Sie, dass die Intervention der NATO die Massaker nach dem 24. März hervorgebracht hat. Das ist einfach falsch. Das war ja absehbar. Es war ja nicht so, dass man Milosevic nicht von anderen Krisenherden gekannt hätte! Schauen Sie sich die Bilanz in Bosnien an! Es ist ja nicht so, dass nichts passiert wäre, wenn die NATO nicht eingegriffen hätte. Die Geschichte läuft weiter. Wir haben das vor dem 24. März sehr ausgiebig diskutiert. Ich war dafür - andere waren dagegen. Auch wenn es sehr schwierig ist, sehe ich keine Alternative, als genau diese UN-Mission voranzubringen. Ich habe keinen Tag bereut, hierher gekommen zu sein.
Misst man nicht mit unterschiedlichen Ellen? Damals ist man sehr hart gegen die Serben vorgegangen, und jetzt schaut man zu, wie sie vertrieben werden.
Wir schauen ja nicht zu. Wir vertreiben sie auch nicht.
Aber es passiert - und Sie haben die Verantwortung ...
Wir haben unser Bestes versucht, die Massaker zu stoppen. Das haben wir erreicht. Wir haben nicht erreicht, dass es keine Verbrechen hier gibt. Das ist bedauerlich, da kämpfen wir weiter. Aber man kann nicht sagen: Hätten wir nicht interveniert, wäre nichts passiert!
Zwischen Nichtstun und Militärintervention gibt es immer noch ein paar Zwischenschritte.
Hätte es eine sehr deutliche, aber damals vielleicht besser begrenzbare Intervention fünf oder zehn Jahre vorher gegeben, hätte man sich einiges erspart. Nur, die internationale Gemeinschaft war ja auch am 24. März nur mit knapper Mühe bereit, überhaupt zu intervenieren. In Srebrenica hätten wir intervenieren müssen...
... in Tschetschenien.
Auch da hätten wir viel stärker intervenieren müssen. Meines Erachtens nicht militärisch, weil wir das nicht hingekriegt hätten.
Das Gespräch führte Norbert Mappes-Niediek
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