Der Synthesizer in der Kammermusik

Lauschangriff „The Magnetic Fields“ analysieren auf ihrem Album "Love at the Bottom of the Sea" das Scheppern. Die "Musical Saw" gehört zu den ausgewiesenen Instrumenten

Die Popgeschichtsschreibung der Zukunft wird sich wundern, warum die wichtigste Unternehmung der Jahrtausendschwelle, die 69 Love Songs der Magnetic Fields von 1999, von der zeitgenössischen Hörerschaft kaum wahrgenommen wurde. Haben die drei CDs, auf denen sich übrigens 69 Liebeslieder finden, doch das 20. Jahrhundert analysiert und dem 21. überliefert. Begonnen hat das 20. Jahrhundert bekanntlich mit der Sprachtheorie Ferdinand de Saussures, dessen Name in einem der Songs auf „not so sure“ gereimt wird; fortgesetzt wurde es mit der ersten Sammlung surrealistischer Texte, Les champs magnétiques, nach der Stephin Merritt die von ihm gegründete Band benannt hat.

Danach folgten 69 Musikstile, welche die Fields in je drei Minuten kondensiert und verständlich gemacht haben. Unhintergehbare Form der Kondensation bleibt der Song: Immer analysieren die Fields die musikalische Tradition, indem sie sie emphatisch fortsetzen, ohne jede Angst, den Soundtrack für eine Reise durch alle Landschaften und Städte der USA zu liefern. Banjo-Klänge bedeuten hier Banjo-Klänge – und doch auch alles, was Banjo-Klänge traditionell bedeuten können.

Es gibt – und dies ist – affirmative Ironie. Das Adverb „beautifully“ hörte man nie so schön gesungen wie von Stephin Merritt. Ja, seine Melodien sind hochgradig mitsummbar, und der Hörer kann sich bei jedem Hören neu entscheiden, ob er mitsummen oder sich über die Instrumentierung wundern will, die insgesamt opulent, im Einzelnen aber sehr sparsam ist: Jeder Song komponiert eine neue Auswahl aus Gitarren, Roland TB303, Cello, Akkordeon, „hand-drawn waveforms in Audiomedia“, Blasinstrumenten, Schlagzeugen und zig weiteren Geräten. Man lernt dabei erstens, dass Synthesizer zur Kammermusik dazugehören, und zweitens, dass guter Pop gute Kammermusik ist. Das Schwitzen kann man den Rockern überlassen.


Danach noch Alben zu machen, ist, als hätte Baudelaire nach Abschluss der Fleurs du Mal noch ein paar kleinere Lyrikbände veröffentlicht. (Der Vergleich mit der Lyrik ist nicht abwegig, enthalten doch auch die 69 Love Songs ein alphabetisches Register der Titel) Hatte die Box für 69 Stücke 69 Sprachen entwickelt, so versuchen die Einzel-Alben seither jeweils zehn Songs unter je eine Regel zu bringen. Das Paar Realism und Distortion etwa spielte durch, ob sich Kammermusik nun doch ohne Synthesizer machen ließ, unterschied aber zwischen akustisch und elektrisch verzerrt.

Das neue Album Love at the Bottom of the Sea reduziert die Länge der Songs auf den Standard der frühen Sechziger (der längste Titel dauert 2:38 Minuten). Die Stücke sind wieder von größter Mitsingbarkeit, werden aber stärker angesägt – tatsächlich gehört die „Musical Saw“ zu den ausgewiesenen Instrumenten. Fokus der Analyse sind alle Formen des Schepperns: des akustischen, elektrischen und elektronischen; die Tonmischung orientiert sich an Live-Aufnahmen vom Jahrmarkt.

Entsprechend dominieren in der fortgesetzten Konfrontation mit der Liebe deren makabre und schweinische Aspekte. Da hat schon mal einer eine Wurst in der Hose, die der Angebeteten Wurst ist, weil sie lieber zum Mariachi tanzt. Wobei diese Hymne, die Mariachi auf die Werbeagentur Saatchi Saatchi reimt und Gitarren und Bläser mit Tönen aus Billigelektronik überlagert, gar nicht recht tanzbar ist.

Pophistoriker werden auch dieses Album brauchen; Magnetic-Fields-Anfängern seien die 69 Love Songs nahegelegt.

Love at the Bottom of the SeaThe Magnetic Fields Domino Recording 2012

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