„Eins ist sicher“, so hat es Klaus Hartung Anfang 1990 formuliert: „die Art und Weise, wie die DDR-Bevölkerung Teil eines geeinten Deutschlands wird, bestimmt die politischen Verhältnisse und die demokratische Kultur der nächsten Jahrzehnte.“ Das war damals im März einerseits schon Schlussstrich, denn die Revolution im Osten war ja nicht begonnen worden, um „Teil eines geeinten Deutschlands“ zu werden. Andererseits lacht die Geschichte über „Hätte, könnte, wäre“ – und seit Frühjahr 1990 donnerte der Zug der „Wiedervereinigung“ durchs bunte Beet der alternativen Vorstellungen. Auf dem Führerstand Helmut Kohl, der Kessel mit D-Mark-Versprechen befeuert, und in den Straßen der DDR kam bald nicht mehr „das Volk“ zusammen, sondern „ein Volk“.
Offen war also noch die Frage des „Wie“. Nach der politischen Enteignung der Ost-Revolutionäre hatte sich die Frage einer alternativen DDR-Utopie in eine an den Westen verwandelt: Wenn nun schon zusammengetackert wird, was angeblich zusammengehören soll, wie weit ist dann das große, dicke, reiche Zweidrittel bereit, dabei auch sich selbst infrage zu stellen?
Deutsche Selbstveränderung kann Angst machen, und das war auch eines der guten Argumente gegen den Artikel 146 im Grundgesetz: den Weg zur Vereinigung über eine gesamtdeutsche Verfassungsgebung. Anders als Artikel 23, der vorgab, „in anderen Teilen Deutschlands“ sei das Grundgesetz „nach deren Beitritt in Kraft zu setzen“.
Nach Artikel 146 hätte die bestehende Verfassung West ihre Geltung verloren, in der viele jedoch das „Optimum des bisher in Deutschland und anderswo je Erreichten“ sahen. Was, wenn ein neues Grundgesetz „matter ausfallen und manchen Freiheitswert relativieren würde“ (so der Journalist Robert Leicht)? Vor der Antwort war Angst berechtigt. Wer von der Geschichte des Grundgesetzes spricht, kann die kleinen und großen Aushöhlungen nicht übersehen. Und was für eine Verfassung hätte die seinerzeitige national-bürgerliche Präpotenz geschrieben?
Ja, der Weg über Artikel 146 hätte der demokratischen Selbstbehauptung Ost weit besser gestanden, die damals am Runden Tisch noch einen eigenen Verfassungsentwurf formulierte. Aber man kann nicht übersehen, dass die Mehrheit der Ostdeutschen etwas anderes wollte: die Einheit. Und das schnell. Wer heute über die Folgen klagt, muss sich an dieser Stelle ehrlich machen. Eine Mehrheit „von uns“ wollte nicht hören auf Klaus Hartung und andere, die eine „Pauperisierung der Massen“ voraussagten. Und die sich darin irrten, wenn sie hofften, es sei „schwer vorstellbar, dass die DDR-Bevölkerung, bei aller Sehnsucht nach den Segnungen der D-Mark, widerstandslos Opfer von vierzig Jahren Kapitalismus in der Bundesrepublik wird“.
Hätte eine neue Verfassung via Artikel 146 nicht auch denen, die im Westen „Opfer von vierzig Jahren Kapitalismus“ geworden waren, neue Rechte und Freiheiten bieten können? Hätte nicht das Ende der DDR zu einem Neuanfang BRD werden sollen? Es gehört zur Ironie der Wende, dass diese Westfrage letztlich im Osten beantwortet wurde. Artikel 23 schlug dort Artikel 146. Auf der Strecke blieben ein immer noch lesenswerter Verfassungsentwurf und eine Möglichkeit der demokratischen Selbstverortung.
Man muss die Ausdehnung des Grundgesetzes auf das Gebiet der bisherigen DDR nicht beklagen, es ist eine gute Verfassung. Einerseits. Aber andererseits liegt in der Entscheidung für den Weg in die Einheit die oft vergessene Pointe der Revolution 1989: Warum griff der Veränderungsoptimismus im Osten nicht auf den Westen über? Die eine andere DDR wollten, mögen „glücklich gescheitert“ sein, am Ende bekamen alle die alte BRD. Ein Sieg für diese wohl, aber auch ein Glück?
Kommentare 6
ach, wer liebt sie nicht, die vor -oder rückschau
auf optisch-weich-gezeichnete wirk-lichkeiten,
die gerade dem intellektuell-veranlagten menschen
soviele frei-räume, alternativen, übersehene ansatzpunkte
liefert,mit denen er (voraus-gesetzt: ein genügend großer hebel)
den materiell-verhafteten hätte zeigen können,
welche neuen welten damals zur auswahl gestanden hätten.
wahrscheinlich mangelte es bloß an lebens-zeit,
idealistischer gesinnung, am drang zum höheren
bei den vielen, deren konzeptive kraft für soziale aufbrüche
in privaten arrangements mit gesellschafts-politischen
imperativen aufgezehrt war.
kontra-faktisch imaginiert wäre dann der FREITAG
möglicherweise heute das "Zentralorgan für die gestaltung möglicher welten".
''Auf dem Führerstand'' der liebe Konsumgott, ''Helmut Kohl, der Kessel mit D-Mark ... befeuert'', so bis Heute, vor allem auf Arbeits- und Sozialkosten der westdeutschen Arbeiterklasse, etwa 1800 x Milliarde Euro. ----
Damit hätte man auch die Armut in ganz Afrika nachhaltig beseitigen können!
Die große Mehrheit der ostdeutschen ''Arbeiterklasse'' hatte sich 1989/1990 klar und deutlich für die sog. „Soziale Marktwirtschaft“ und für die „Sozialpartnerschaft“ mit der westdeutschen Finanz- und Monopolbourgeoisie und deren persönlich leistungslosen Erbschafts- und Quandtschen Dividenden-MilliardärInnen entschieden!
Die große Mehrheit der ostdeutschen Wirtschaftsflüchtlinge hatte eine tiefenpsychologische Sehnsucht nach dem westdeutschen Lebensstandard und an einer [ihrer] persönlichen Teilhabe am imperialistischen NATO–Konsumparadies.
Da gab es kein Interesse bei den ostdeutschen Wirtschaftsflüchtlingen an einen gesellschaftspolitischen Neuanfang.
PS: Siehe doch auch nur das klare Ergebnis zur ostdeutschen Volkskammerwahl vom 18. März 1990. Die eigentlichen AktivistInnen der ostdeutschen Bürgerbewegung wären dabei mit ihrem geringen Stimmenanteil heute nicht einmal im Bundestag vertreten.
- ungeschminkt.
23.05.2019, R.S.
Na ja, "Aber man kann nicht übersehen, dass die Mehrheit der Ostdeutschen etwas anderes wollte: die Einheit. Und das schnell."
Das stimmt (wahrscheinlich) - aber dieser einheitsdrang war von der angst gesteuert, dass der vereinigungsvorgang mglw. zulange dauern könnte, so dass insbesondere die generation 50+ nicht mehr in den "genuss" des wohlfahrtsstaats und der bunten warenwelt kommen würde.
Wer - wie ich - damals in Leipzig in die gesichter damals 50+ jahe alter braunkohlekumpel gesehen hat, die die einheit "jetzt" forderten, der hat damals schon den kopf geschüttelt über soviel einfalt. Die DM haben sie alle schnell bekommen, gezahlt haben sie mit verhöhnung, demütigung, arbeitslosigkeit und rentenbetrug...
Die konsum-"einheit" haben sie nicht bekommen, aber einen blick auf die bunte warenwelt in den schaufenstern; das einkommen, um sich in diese welt einzukaufen, hatten sie nie - und ihre kinder mussten in den westen gehen, um sich das zu leisten. Sie bleiben zurück - einsam in der zone...
++"Warum griff der Veränderungsoptimismus im Osten nicht auf den Westen über? Die eine andere DDR wollten, mögen „glücklich gescheitert“ sein, am Ende bekamen alle die alte BRD. Ein Sieg für diese wohl, aber auch ein Glück?"++
Vielleicht kam alles so, weil der Blick auf das politische Personal dieser Veränderungen nicht optimistisch stimmte. Ich habe in der Zeit einige erlebt. Das waren - wie so oft - gute Redner, schlaue Zeitbetrachter und kluge Kritiker des Bestehenden. Aber sie waren sich weder einig noch hatten sie wirklich einen Plan. Bärbel Bohley ging mir nach kurzer Zeit in ihren Reden gehörig auf den Senkel muss ich sagen.
Und die SED war sicherlich in dieser oder jener Form reformwillig, aber sie hatte zu wenig politische Köpfe außer Gysi.
Dass diese Allianz für Deutschland dann gesiegt hat, beruhte am Ende ja auch auf der Vernachlässigung aller möglichen Prinzipien. Ich erinnere mich noch, dass Volker Rühe, CDU-Generalsekretär spöttisch und angewidert die Augen verdrehte, als ich ihn damals fragte, ob er mit der CDU-Ost verhandeln will. Kurze Zeit später haben sie es getan, weil die CDU mit prima Logistik dienen konnte als Blockpartei.
Lothar de Maiziere war dann am Ende durchaus ein ehrenwerter Ministerpräsident, aber er war dem Kohl sowieso nicht gewachsen - der hat ihn platt gemacht. Außerdem: Wenn sich in den anderen Staaten des Ostblocks umsieht, die auch eine Wende vollzogen haben, sieht, Sie alle waren eine ganze Weile - und sind es noch - instabil und das "Volksvermögen" wurde erstmal verschachert. Das war auch absolut voraussehbar.
Da erschien die "Deutsche Einheit" - der Beitritt - als eine Ordnung, die zuviel Chaos eindämmt. Es war auch so noch ziemlich heftig. Die Leute hatten dann einfach andere Sorgen...
Na ja,
''und rentenbetrug …'' ?
Als westlicher Handwerksmeister hatte ich nach der ostdeutschen Systemwende meinen Arbeitsplatz an Ost-Berliner Berufsschulen. Hier konnte ich die beschleunigte Lohnanpassung für (vormals) Ost-Berliner BerufsschullehrerInnen miterleben.
Wofür in Westberlin und Westdeutschland Lehrer häufig über Jahrzehnte einen Gewerkschaftlichen Arbeitskampf führen mussten, das bekamen die neuen (Ostberliner) LehrerInnen in wenigen Jahren vom Staat geliefert und/bzw. geschenkt, ohne dafür gewerkschaftlich und/oder persönlich zu kämpfen.
So hatten meine Ost-Berliner Lehrerkollegen an der Weißenseer Berufsschule für das Baugewerbe, nach ihrer Selbstauskunft, bereits schon im Jahr 1993/1994 ein mtl. Netto-Einkommen von mehr als 4000 DM. //
Auch auf Personalversammlungen verhielten sich die (alt-neuen) Ost-Berliner LehrerInnen meistens zurück, wohl auch aus Furcht vor der noch anstehenden VS-BStU-MfS-Personal- und Personenüberprüfung und überließen das Wort für soziale und berufsschulische Verbesserungen ihren westlichen und/bzw. West-Berliner KollegInnen. –
PS: So musste ich auch erleben, wie vormalige SED-Mitglieder ihren einstigen Ost-Berliner Vorgesetzten und politisch aktiven Lehrerkollegen [von vor 1990] in den Rücken fallen. So bemühten sie sich um ihre persönliche neu-staatliche Verbeamtung und betätigten sich beim Denunzieren früherer aktiver SED-Parteimitglieder. Dabei auch vor ihren neuen (westlichen) Vorgesetzten und GEW-Kollegen.
PS: Für die Teilhabe am westdeutschen und imperialistischen NATO-EU-Konsumparadies wurde von der großen Mehrheit der ostdeutschen Erwachsenenbevölkerung 1989/1990 der Humanismus des Antiimperialismus der staatlich-antifaschistischen DDR über Bord geworfen! –
Auch mit ihren früheren Fahnen-Eid, so auf die Sicherung der staatlichen Existenz der DDR , nicht nur bei NVA und MfS, wurde die große Mehrheit der Ostdeutschen 1990 meineidig.
- unvollständig und ungeschminkt.
24.05.2019, R.S.
Ist eigentlich irgendjemandem ein Artikel zum 70. Jahrestag des GG untergekommen, der kritisch hinterfragt, warum das GG im Mai 1949 für die drei westlichen Besatzungszonen in Kraft getreten ist und erst am 7. Oktober aus der sowjetischen Besatzungszone die DDR wurde?