Der Tacker der deutschen Einheit

Grundgesetz Das Ende der DDR hätte zu einem Neuanfang für die BRD werden können
Ausgabe 20/2019

„Eins ist sicher“, so hat es Klaus Hartung Anfang 1990 formuliert: „die Art und Weise, wie die DDR-Bevölkerung Teil eines geeinten Deutschlands wird, bestimmt die politischen Verhältnisse und die demokratische Kultur der nächsten Jahrzehnte.“ Das war damals im März einerseits schon Schlussstrich, denn die Revolution im Osten war ja nicht begonnen worden, um „Teil eines geeinten Deutschlands“ zu werden. Andererseits lacht die Geschichte über „Hätte, könnte, wäre“ – und seit Frühjahr 1990 donnerte der Zug der „Wiedervereinigung“ durchs bunte Beet der alternativen Vorstellungen. Auf dem Führerstand Helmut Kohl, der Kessel mit D-Mark-Versprechen befeuert, und in den Straßen der DDR kam bald nicht mehr „das Volk“ zusammen, sondern „ein Volk“.

Offen war also noch die Frage des „Wie“. Nach der politischen Enteignung der Ost-Revolutionäre hatte sich die Frage einer alternativen DDR-Utopie in eine an den Westen verwandelt: Wenn nun schon zusammengetackert wird, was angeblich zusammengehören soll, wie weit ist dann das große, dicke, reiche Zweidrittel bereit, dabei auch sich selbst infrage zu stellen?

Deutsche Selbstveränderung kann Angst machen, und das war auch eines der guten Argumente gegen den Artikel 146 im Grundgesetz: den Weg zur Vereinigung über eine gesamtdeutsche Verfassungsgebung. Anders als Artikel 23, der vorgab, „in anderen Teilen Deutschlands“ sei das Grundgesetz „nach deren Beitritt in Kraft zu setzen“.

Nach Artikel 146 hätte die bestehende Verfassung West ihre Geltung verloren, in der viele jedoch das „Optimum des bisher in Deutschland und anderswo je Erreichten“ sahen. Was, wenn ein neues Grundgesetz „matter ausfallen und manchen Freiheitswert relativieren würde“ (so der Journalist Robert Leicht)? Vor der Antwort war Angst berechtigt. Wer von der Geschichte des Grundgesetzes spricht, kann die kleinen und großen Aushöhlungen nicht übersehen. Und was für eine Verfassung hätte die seinerzeitige national-bürgerliche Präpotenz geschrieben?

Ja, der Weg über Artikel 146 hätte der demokratischen Selbstbehauptung Ost weit besser gestanden, die damals am Runden Tisch noch einen eigenen Verfassungsentwurf formulierte. Aber man kann nicht übersehen, dass die Mehrheit der Ostdeutschen etwas anderes wollte: die Einheit. Und das schnell. Wer heute über die Folgen klagt, muss sich an dieser Stelle ehrlich machen. Eine Mehrheit „von uns“ wollte nicht hören auf Klaus Hartung und andere, die eine „Pauperisierung der Massen“ voraussagten. Und die sich darin irrten, wenn sie hofften, es sei „schwer vorstellbar, dass die DDR-Bevölkerung, bei aller Sehnsucht nach den Segnungen der D-Mark, widerstandslos Opfer von vierzig Jahren Kapitalismus in der Bundesrepublik wird“.

Hätte eine neue Verfassung via Artikel 146 nicht auch denen, die im Westen „Opfer von vierzig Jahren Kapitalismus“ geworden waren, neue Rechte und Freiheiten bieten können? Hätte nicht das Ende der DDR zu einem Neuanfang BRD werden sollen? Es gehört zur Ironie der Wende, dass diese Westfrage letztlich im Osten beantwortet wurde. Artikel 23 schlug dort Artikel 146. Auf der Strecke blieben ein immer noch lesenswerter Verfassungsentwurf und eine Möglichkeit der demokratischen Selbstverortung.

Man muss die Ausdehnung des Grundgesetzes auf das Gebiet der bisherigen DDR nicht beklagen, es ist eine gute Verfassung. Einerseits. Aber andererseits liegt in der Entscheidung für den Weg in die Einheit die oft vergessene Pointe der Revolution 1989: Warum griff der Veränderungsoptimismus im Osten nicht auf den Westen über? Die eine andere DDR wollten, mögen „glücklich gescheitert“ sein, am Ende bekamen alle die alte BRD. Ein Sieg für diese wohl, aber auch ein Glück?

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