Der tägliche Bericht von der Front

Wetter Der Wetterbericht hat im Fernsehen, vor allem aber im Internet seine angenehm einschläfernde Wirkung verloren

Früher war der Wetterbericht der entspannte Gähnkrampf des Vorabendprogramms. Vorgetragen wurde er meist von irgendwie als Wissenschaftler oder zumindest Experten verkleideten Männern mit Anzug, Schlips und Kassenbrille, die mit einem Schnipper in der Hand ihre meteorologischen Fachauskünfte als bunte Karten an die Wand warfen. Während des Wetterberichts konnte man Abendbrot machen, das Geschirr spülen oder die Kinder ins Bett bringen – aufmerksam angeschaut hat man sich ihn eigentlich nur, wenn man für den nächsten Tag eine Reise oder einen Ausflug plante und wissen wollte, welche Sachen man einpacken oder anziehen musste.

Heute sind die Experten weniger bieder gekleidet und immer häufiger weiblich, ihre Power-Point-Präsentation ist abwechslungsreicher, ihre Körpersprache lässiger und ihre Aussprache nuscheliger geworden. Aber das ist nicht das Einzige, das sich geändert hat.

Wirklich neu ist, dass der Wetterbericht im Fernsehen, vor allem aber im Internet seine angenehm einschläfernde Wirkung verloren hat. An seine Stelle ist ein Appell zur Selbstaufrüstung getreten. So scheint das Wetter, in den Nachrichten weit stärker als in der Wirklichkeit, nur noch Extreme zu kennen.

Die großen E-Mail-Anbieter sind bei der Entdeckung von Wetterextremen am erfinderischsten. Ein moderater Temperatursturz wird hier als „Knüppelkälte“ oder „Sibirien-Einbruch“, ein warmer Juni als „Hitzekeule“ oder „Saharasommer“ annonciert. Gut dreimal am Tag bombardieren die E-Mail-Dienste ihre Nutzer mit immer wechselnden, aber stets Rekorde vermeldenden Wetterdiagnosen. Dass die vermeintlichen Rekorde statistisch oft kaum belegt werden, scheint Diensten wie Kunden egal zu sein. Jedenfalls hat sich noch kein Mitglied der meinungsfreudigen Kommentatorengemeinde von GMX oder Yahoo öffentlichkeitswirksam darüber beschwert, dass eine milde Frühlingsabkühlung ihm als Temperaturabfall um 20 Grad oder ein früher Sommer ihm als „Hitzeschock“ verkauft worden ist. Die notorische Falschheit der Wetterprognosen, die den professionellen Auguren früher zum Vorwurf gemacht wurde, scheint inzwischen geradezu erwartet zu werden.

Das Bedürfnis, das die Extremwetterberichte in Wahrheit bedienen, ist keines nach Information, sondern eines nach Abenteuer und Einzelkampf. Ein anderes Symptom dafür ist die massenhafte Beliebtheit von Outdoor-Kleidung selbst für die Fahrradfahrt zum Arbeitsplatz oder das Wochenendpicknick in der Grünanlage. Weil jeder glaubt zeigen zu müssen, dass er für den Überlebenskampf in der verwilderten zweiten Natur gerüstet ist, erscheint ihm die Wettervorhersage als Herausforderung, der zu trotzen, als Bedrohung, die zu bewältigen ist.

Schönes Wetter, milde Witterung und Klimagleichklang sind deshalb kaum eine Nachricht mehr wert. Nur die Extreme erlauben es, sich und der Gemeinschaft zu beweisen, dass man ein ganzer Kerl ist. Die Ankündigung von Schlechtwetterfronten erhält so einen unmeteorologischen Beiklang: Das tägliche Extremwetter ermöglicht es den Bürgern, sich als Legionäre im Klimakampf zu fühlen. Was soll man sonst auch mit der Restnatur anfangen, die einem geblieben ist?

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