Die Terrorstrategen des Islamischen Staates (IS) dürften die Anschläge von Brüssel als Erfolg auf der ganzen Linie verbuchen. Für sie ist von Interesse, was nach einem Attentat passiert; welche Konsequenzen ein Blutbad hat, wie zerfetzte Körperteile Politik verändern. Für die Terror-Paten ist die zerstörte Abfertigungshalle eines Flughafens ein Mittel zum Zweck. Und der heißt Macht.
In der vergangenen Woche konnten diese Leute triumphieren, ist es ihnen doch gelungen, die Tat von armseligen Psychopathen in ein Ereignis zu verwandeln, das die Bevölkerung eines ganzen Kontinents in Angst versetzt und dessen Öffentlichkeit verändert. Die Masterminds des IS messen ihren Erfolg an den Sendezeiten der Fernsehanstalten, an anschwellenden Sicherheitsbudgets, verstümmelten bürgerlichen Freiheiten und verschärften Gesetzen – und an diskriminierten, für ihre Sache gewonnenen Muslimen. Ihr Geschäft sind die Reaktionen, die sie provozieren. Sie manipulieren die Politik und erreichen ihre Ziele dank der Verblendung ihrer Feinde.
Zynischer Kontrast
In Lehrbüchern über den Terrorismus kann man nachlesen, dass er seine Wirkung in vier Stufen entfaltet: zuerst der unmittelbare Schrecken; dann die öffentliche Aufmerksamkeit; es folgt der Versuch der Politik, sich in der Gefahr zu profilieren, schließlich als Höhepunkt – der politische Paradigmenwechsel. Die ursprüngliche Tat ist banal. Auf den Straßen von Bagdad und Aleppo kommt es fast täglich zu den gleichen Gräueltaten wie jetzt in Brüssel. Raketen des Westens und Bomben des IS töten in jeder Woche mehr unbeteiligte Zivilisten, als Menschen in Europa während eines Jahres zu Terroropfern werden. Der Unterschied liegt in der Reaktion der westlichen Medien. Ein toter Muslim ist für sie nur ein armes Schwein, das sich zur falschen Zeit am falschen Ort befand. Ein toter Europäer ist der Aufmacher auf Seite 1.
Entsprechend verhielten sich die Fernsehsender am 22. März nach den Anschlägen, als arbeiteten sie für die IS-Rekrutierungsbüros. Wenig Zurückhaltung, stattdessen Zuspitzung und Übertreibung als Gebot der Stunde. Ein BBC-Reporter fuhr in einem Aufzug der Londoner U-Bahn, um ein künftiges Anschlagsziel zu zeigen und alle Pendler zu Tode zu erschrecken.
Nachdem das Feld dergestalt bestellt war, betraten die Politiker die Bühne. Frankreichs Präsident François Hollande erklärte, ganz Europa stehe im Krieg, und spielte den Lautsprecher für den IS. Seine Zustimmungswerte gingen unverzüglich nach oben. Premier David Cameron tauchte in seinen Cobra-Bunker ab und erklärte, das Vereinigte Königreich sehe sich einer „äußerst realen Terrorgefahr“ gegenüber. Die britischen Dienste ließen wissen, ein Anschlag sei nun „sehr wahrscheinlich“, die Flaggen wurden auf Halbmast gehängt, der Eiffelturm und andere Bauwerke in die belgischen Farben getaucht. Der republikanische Präsidentenanwärter Donald Trump erklärte, Frankreich und Belgien seien dabei, „buchstäblich auseinanderzufallen“.
Man kann sich schwer vorstellen, was die Sache des IS wirkungsvoller voranzubringen vermag. Wer kam stattdessen auf die Idee, Maß zu halten? Wer erklärte, dem Tötungswahn entgrenzter Krimineller müsse nicht der Krieg erklärt, sondern durch eine EU-weit vernetzte Polizeiarbeit, durch den Rechts- und nicht Überwachungsstaat begegnet werden? Die offenbarten Defizite der Ermittler wie die fehlende Koordination zwischen Frankreich und Belgien sorgten für einen zynischen Kontrast zu der durch die Politik beschworenen Gefahr.
Osama bin Laden machte sich am 11. September 2001 daran, die westlichen Nationen als kraftlos, paranoid und ihren Liberalismus als oberflächliche Farce zu entlarven. Ein paar Explosionen, und ihre überhebliche Anmaßung werde in sich zusammenbrechen, prophezeite er. Dann komme ihr wahres Gesicht zum Vorschein, das genauso repressiv sei wie das irgendeines muslimischen Landes.
Es gibt einen Schutz
Wir können auf die Ereignisse von Brüssel mit ruhiger, ehrfürchtiger Anteilnahme reagieren. Maßvoll zu bleiben heißt nicht, ignorant zu sein. In einer freien Gesellschaft kann es keinen vollständigen Schutz gegen solche Verbrechen geben. Doch gibt es einen Schutz gegen das, was damit erreicht werden soll, und der besteht darin, Hysterie zu vermeiden und nicht reflexartig nach schärferen Gesetzen zu schreien.
Zu Hochzeiten des IRA-Terrors in den 80er Jahren beharrten sowohl von Labour als von den Konservativen geführte Regierungen darauf, den Terrorismus als die Tat von Kriminellen zu behandeln, und ihm seinen politischen Charakter abzusprechen. Sie vertrauten auf Polizei und Geheimdienste, um die Bevölkerung gegen eine Gefahr zu schützen, die nur eingedämmt, aber nie völlig ausgeschaltet werden konnte. Alles in allem ist diese Strategie aufgegangen, ohne dass die bürgerlichen Freiheiten übermäßig in Mitleidenschaft gezogen wurden.
Wer in einer freien Gesellschaft lebt, weiß, dass diese Freiheiten den Preis eines gewissen Risikos einschließen. Wir zahlen Steuern, damit der Staat uns beschützt – er soll dies aber tun, ohne uns Angst einzujagen. In seinem Handbuch Terrorism: How to Respond schreibt der Belfaster Wissenschaftler Richard English, die Gefahr für die Demokratie, die vom Terrorismus ausgehe, liege nicht so sehr in Tod und Zerstörung, sondern vielmehr in der „unbedachten und kontraproduktiven Reaktion des Staates“.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.