Ende August wurden zwei Polemiken gegen Konjunkturprogramme veröffentlicht: eine von Robert Kurz in dieser Zeitung (Am Krankenbett, Freitag 35/08) und eine von Peer Steinbrück im Stern. Beide zielten in die gleiche Richtung. In meinem Internet-Blog Nachdenkseiten habe ich deshalb geschrieben, beide zögen am gleichen Strang. Dieser Vergleich stößt auf geteilte Reaktionen: Einige halten ihn für rundum korrekt. Andere sehen in meinem Werben für Konjunkturprogramme eine Art Verrat am Ziel, das verachtete System des Kapitalismus loszuwerden.
Ich würde auch viel lieber in einem Land leben, indem es fairer, gerechter und humaner zugeht. Die Chance zu diesem Systemwechsel sehe ich nicht, aber ich will die Hoffnung darauf niemandem nehmen. Ich wehre mich allerdings dagegen, wenn der Versuch geschmäht wird, die Lage der arbeitenden und der erwerbslosen Menschen mithilfe einer makroökonomischen Beschäftigungspolitik zu verbessern. Wo der neoliberal eingefärbte SPD-Finanzminister Steinbrück und der sich als links empfindende Publizist Kurz in gleicher Schärfe gegen ein wichtiges Element einer solchen Politik polemisieren, wird dieser der Teppich unter den Füßen weggezogen.
Die Lohnquote, also das Verhältnis der Arbeitnehmerentgelte zum Volkseinkommen, ist nach der ersten größeren Rezession Mitte der sechziger Jahre unter dem Einfluss von Konjunkturprogrammen von 66,5 Prozent im Jahr 1968 binnen sechs Jahren auf rund 71,5 Prozent gestiegen. Sie sank unter dem Eindruck der ersten Ölpreiskrise 1973 und der folgenden Rezession auf knapp unter 70 Prozent ab, erholte sich im Zuge der Verbesserung der Konjunktur bis 1980 wieder und fiel dann mit wachsender Arbeitslosigkeit ins Bodenlose.
Die Parallelen zur konjunkturellen Entwicklung haben einen eindeutigen Hintergrund: Wenn Arbeitnehmer Alternativen haben, können sie auch Nein sagen. Dann holen die Gewerkschaften und sie selbst auf dem Arbeitsmarkt für sich mehr heraus. Wenn hingegen eine Reservearmee von Erwerbslosen zur freien Verfügung der Unternehmen steht, können Löhne gedrückt werden.
Eigentlich eine banale Erkenntnis. Linke Ökonomen werben deshalb darum, die wenigen Möglichkeiten zur Verbesserung der Arbeitsmarktlage zu nutzen. Dafür wird man dann mit dem Etikett "Keynesianer" versehen. "Ausgerechnet angesichts einer Wiederkehr der Stagflation der siebziger Jahre werden Varianten der keynesianischen Rezepte exhumiert", schreibt Kurz im Freitag, "die damals gerade gescheitert waren und die kapitalistischen Eliten eine Flucht nach vorn in die neoliberale Revolution antreten ließen."
Inzwischen ist der Glaube weit verbreitet, eine aktive Beschäftigungspolitik helfe nichts und Konjunkturprogramme seien nur ein Strohfeuer, in dem Geld verbrannt wird. Das liegt auch daran, dass rechts und links gleichermaßen dagegen polemisiert wird. Was aber stimmt an den Argumenten von Robert Kurz? Nahezu nichts.
Bei ihm ist zum Beispiel von Stagflation die Rede, womit ein Zustand beschrieben werden soll, bei dem Stagnation und Inflation zusammenkommen. Im Durchschnitt der Jahre 1970 bis 1979 gab es ein reales Wachstum von 3,1 Prozent per annum. Von Stagnation kann man da wohl nicht sprechen.
Was in den siebziger Jahren wirtschaftspolitisch tatsächlich ablief, wird besser sichtbar, wenn man sich die einzelnen Wachstumsziffern für die siebziger Jahre genauer anschaut (Werte in Prozent):
Nach guten Wachstumsergebnissen wurde 1975 ein Minus von 1,3 Prozent registriert - wahrscheinlich die Folge des Ölpreisschocks vom Oktober 1973 und einer schon zuvor eingeleiteten bremsenden Geld- und Zinspolitik der Bundesbank. 1976 sprang die Konjunktur bereits wieder an, einem Plus von über fünf Prozent folgten bis Ende der siebziger Jahre weitere gute Wachstumszahlen. Diese waren das Ergebnis einer expansiven Konjunkturpolitik mit Konjunkturprogrammen! Ist das ein Beleg fürs Scheitern des Dr. Keynes?
Damals haben wissenschaftliche Institute die Beschäftigungseffekte der Konjunkturprogramme über den grünen Klee gelobt. Später wurde die Geschichte jedoch umgeschrieben. Die neoliberalen Glaubensbrüder, die sich durchgesetzt haben, konnten den positiven Effekt nicht ertragen. Es passte nicht ins Bild.
Robert Kurz schildert den damaligen Ablauf auch da ziemlich falsch, wo er meint, die kapitalistischen Eliten hätten wegen des Scheiterns der Konjunkturprogramme die Flucht nach vorn in eine neoliberale Revolution angetreten. Der vom Monetarismus geprägte Flügel hat bereits Anfang der siebziger Jahre in der Bundesbank eine beschäftigungsfeindliche Haltung und Geldpolitik durchgesetzt - gegen die eher von Keynes geprägten Wirtschaftspolitiker. Dieser Kampf tobte in den siebziger Jahren. Die neoliberal geprägten Monetaristen setzten 1980 dann massive Zinserhöhungen durch. Die konjunkturelle Entwicklung in den achtziger Jahren war entsprechend mager.
In diesem Zusammenhang wäre es interessant, der Frage nachzugehen, ob die Chicago-Schule um Milton Friedman schon 1973 Einfluss auf die Bundesbank, die Politik und auf Wissenschaftler hatte. Naomi Klein beschreibt in ihrem Buch Schock-Strategie, wie diese Schule sich nach dem Putsch in Chile unter dem Schutz der Diktatur Pinochets ausbreitete - und zu Lasten der Beschäftigten in Chile austobte. Ihr fragwürdiger Erfolg bestand in der Schaffung einer Reservearmee von Arbeitslosen. Ich weiß nicht, ob es damals schon Kontakte zwischen der Chicago-Schule und zum Beispiel dem späteren Finanzstaatssekretär und Bundesbankpräsidenten Hans Tietmeyer (CDU) gegeben hat. Das kann ich nur vermuten.
Die Darstellung von Kurz trifft jedenfalls nicht zu. Es gab damals in Deutschland keine Flucht der Keynesianer in den Neoliberalismus. Es gab einen unterschwelligen Kampf zwischen beiden, den Letztere zu ihren Gunsten entschieden haben. Mit Beifall offenbar von allen Seiten.
Auch heute wären Konjunkturprogramme erfolgreich. Das Argument, "alle Konjunkturprogramme seien nationalstaatlich beschränkt", ist gleich in zweierlei Hinsicht falsch. Zum ersten wird der größte Teil des Inlandsprodukts auf dem Binnenmarkt erwirtschaftet und nicht durch Im- und Exporte. Zum zweiten ließen sich konjunkturpolitische Impulse innerhalb Europas ohne Schwierigkeiten verabreden. Die anderen Länder wären sogar darauf angewiesen, dass wir gemeinsam an einem Strang ziehen. Sie haben das in den vergangenen 25 Jahren auch schon oft zu verstehen gegeben. Es fehlt nicht an der Möglichkeit zum gemeinsamen Handeln. Auf Europa entfallen bereits 65 bis 70 Prozent der Handelsverflechtungen. Da würde wenig von den eigenen Konjunkturimpulsen verpuffen.
Der Disput um Konjunkturprogramme ist kein Spaß. Es geht um die Arbeitsmarktchancen von Lohnabhängigen und um ihre Möglichkeit, gegenüber den Unternehmen endlich wieder bestehen zu können. Diese Menschen kann man nicht mit dem Hinweis auf einen fernen Systemwechsel vertrösten.
Der Volkswirt Albrecht Müller war Anfang der siebziger Jahre maßgeblich für den Wahlkampf Willy Brandts verantwortlich, leitete dann die Planungsabteilung im Bundeskanzleramt unter Brandt und Helmut Schmidt und war später SPD-Bundestagsabgeordneter. Heute ist Müller als Autor tätig (Die Reformlüge und Machtwahn) und betreibt gemeinsam mit dem Juristen Wolfgang Lieb das kritische Internetportal www.nachdenkseiten.de.
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