Der Terror aus Mamas Keller

Netzkultur Viele Attentäter entstammen einer Szene, die sich seit 20 Jahren im Internet radikalisiert
Ausgabe 42/2019
Im Uhrzeigersinn: 2019, Der Attentäter von Halle streamt den Anschlag auf eine Synagoge live auf Twitch und nennt sich „Anon“. Er tötet zwei Menschen; 2019, In Christchurch bringt ein Attentäter in einer Moschee 51 Menschen um. Er kündigt die Tat auf 8chan an und streamt sie live auf Twitch; 2018, In Toronto bringt ein Attentäter zehn Menschen um. Auf Facebook bezieht er sich auf Elliot Rodger und eine „Incel-Rebellion“, 2014, Elliot Rodger tötet sechs Student*innen in Isla Vista, Kalifornien. Die Tat begründet er damit, unfreiwillig Jungfrau zu sein – ein „Incel“
Im Uhrzeigersinn: 2019, Der Attentäter von Halle streamt den Anschlag auf eine Synagoge live auf Twitch und nennt sich „Anon“. Er tötet zwei Menschen; 2019, In Christchurch bringt ein Attentäter in einer Moschee 51 Menschen um. Er kündigt die Tat auf 8chan an und streamt sie live auf Twitch; 2018, In Toronto bringt ein Attentäter zehn Menschen um. Auf Facebook bezieht er sich auf Elliot Rodger und eine „Incel-Rebellion“, 2014, Elliot Rodger tötet sechs Student*innen in Isla Vista, Kalifornien. Die Tat begründet er damit, unfreiwillig Jungfrau zu sein – ein „Incel“

Fotos: AFP/Getty Images (3), AP Photo/dpa

„Mein Name ist Anon“, sagte der Täter von Halle in dem Video seines Attentats, das er live streamte, „und ich glaube, der Holocaust ist nie passiert.“ Am 9. Oktober 2019 attackierte der 27-Jährige eine Synagoge mit selbst hergestellten Waffen und Sprengstoffen. Als er es nicht schaffte, durch die Tür zu brechen, erschoss er eine Passantin und den Besucher eines Döner-Imbisses. Das Video verbreitete er über den Videospiel-Streaming-Service Twitch. Darin erklärte er weiter, der Feminismus sei die Ursache für rückläufige Geburtsraten in den westlichen Ländern, womit wiederum die „Massenimmigration“ gerechtfertigt werde, die Wurzel all dieser Probleme sei „der Jude“.

Das Attentat war kein isolierter Vorfall, sondern folgt einem mörderischen Muster. Die Vorlage bildet das Attentat auf eine Moschee im neuseeländischen Christchurch im März dieses Jahres, bei dem ein faschistischer Schütze 51 Besucher des Gottesdienstes tötete. Halle war nicht der erste Nachahmungsversuch dieser Tat, sondern der vierte – nach antisemitischen und rassistischen Anschlägen im kalifornischen Poway, im texanischen El Paso und im norwegischen Bærum.

All diese Verbrechen wurden von jungen Männern begangen, die auf Internetforen verkehrten, die als „Chans“ bekannt sind. Der Attentäter von Neuseeland streamte seine Terrorattacke live über das Imageboard 8chan. Ebenso wie die Nachahmungstäter in Poway und El Paso umgab er sein Manifest mit rassistischen Memes – Bildern mit kurzen Textnachrichten. 8chan wurde dann nach einem öffentlichen Aufschrei im August aus dem Netz genommen. Daher veröffentlichten die Täter von Norwegen und Halle ihre Manifeste auf anderen, ähnlichen Seiten. Nutzer dieser Foren nennen sich: Anon.

Am Anfang waren Manga-Fans

Es ist schwierig, das Attentat von Halle einzuordnen, ohne die Geschichte der Chans zu verstehen, die ich seit Jahren dokumentiere. Sie entstanden in Japan Ende der 90er Jahre als Foren für Otakus, enthusiastische Manga- und Anime-Fans. Die Otaku-Kultur ist eng mit dem sozialen Phänomen der „Hikikomori“ verbunden, was wörtlich übersetzt „die sich wegschließen“ bedeutet: Aus dem Gefühl, in einer zunehmend extrem wettbewerbsorientierten Arbeitswelt nicht bestehen zu können, zogen sich junge Leute vermehrt in Fantasiewelten zurück. Anstatt das Haus zu verlassen, ersetzten sie ihr Leben durch den Konsum von Videospielen, Filmen und Anime.

Ende 2003 war die eskapistische Otaku-Kultur auch in den USA angekommen. Eine Online-Heimat fand sie, als ein 15-Jähriger namens Christopher „Moot“ Poole das englischsprachige Imageboard 4chan gründete. Wie seine japanischen Vorbilder löschte 4chan Beiträge nach einer bestimmten Zeit automatisch und ermutigte anonymes Posting – daher der Spitzname „Anon“. Reguliert wurden die Inhalte kaum. Anfangs war es nur eine Plattform für eine neue wilde Jugend-Subkultur, auf der junge Otakus seltsame, aus der Popkultur zusammengewürfelte Bilder posteten. Mit der Zeit wurde 4chan zu einer der beliebtesten Seiten im Internet. Sie zog Millionen von beschäftigungslosen jungen Männern an und entwickelte sich gleichzeitig zu einem Umschlagplatz für kleinere Internetverbrechen, Cybermobbing, Hacking, Pornografie und dunkle Bekenntnisse.

Die Männer, die ein Jahrzehnt zuvor aus dem echten Leben ausgestiegen waren, blickten um sich und bemerkten, dass ihre Perspektiven sich nicht verbessert hatten. Zu ihnen gesellten sich viele junge Leute, die es nach der Finanzkrise 2008 noch schwieriger fanden, aus ihrem Elternhaus auszuziehen, gute Arbeitsplätze zu finden und auf eigenen Füßen zu stehen. Gleichzeitig wuchs das Angebot an Ablenkungsmöglichkeiten im Netz. So entstand zwischen 2012 und 2014 eine neue Otaku-Kultur, die in gewisser Weise noch verzweifelter und kaputter war. Chan-Nutzer popularisierten eine ganz eigene Sprache, um ihren Zustand zu beschreiben. Sie bezeichneten sich selbst als „NEETs“ (nicht in der Schule, angestellt oder in Ausbildung – ein aus den Sozialwissenschaften entlehnter Begriff), „Beta males“ (im Gegensatz zu den erfolgreichen „Alphas“) oder „Incels“ (unfreiwillig sexuell Enthaltsame), die in Sachen Liebe zum Scheitern verurteilt sind. Es entwickelte sich ein Internetphänomen, das als Gruppendenken bezeichnet wird, bei dem sich die Chan-Nutzer „allein gemeinsam“ davon überzeugten, dass ihre einzige Option sei, sich permanent aus dem Leben zurückzuziehen.

Schließlich mündete die Kultur in eine politische Bewegung. Zum vorläufigen Höhepunkt gelangte sie 2014, als 4chan-User eine frauenfeindliche Einschüchterungskampagne gegen die Spieleentwicklerin Zoe Quinn führten, die als „Gamergate“ bekannt wurde. Jahrelang wurde Quinn mit Todesdrohungen der zunehmend frauenfeindlichen Forumsnutzer bombardiert. Für „Gamergaters“ stand Quinn für den Versuch des Feminismus, Videospiele verändern zu wollen. Als Bedrohung empfanden das Nutzer, die dort ihren Sex- und Machtfantasien frönen, um dem echten Leben zu entfliehen, in dem sie machtlos und allein sind. Als Gamergate-Kommentare 2014 auf 4chan verboten wurden, wanderte ein Großteil der User auf die Nachahmer-Website 8chan ab, die noch weniger reguliert wurde.

2015 hatte sich Gamergate totgelaufen. Aber einige rechte Blogger sahen die Chance, die große neue Nutzergruppe aufgebrachter junger Männer auf der Suche nach Orientierung auszunutzen. Mit der Hilfe von Donald Trumps Wahlkampfstrategen Steve Bannon wurden populäre Gamergate-Vertreter zu Anführern einer aufstrebenden rechtsextremen Koalition, die in den USA als „Alt-Right“, kurz für „Alternative Rechte“, bekannt ist.

Wie in den 1930ern – das letzte Mal, als die soziale Ungleichheit derartige Extreme erreicht hatte wie heute – begann eine große Anzahl sozial herabgestufter Leute, die durch abrupte Veränderungen in der modernen kapitalistischen Wirtschaft an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden, sich dem Faschismus zuzuwenden. Viele von ihnen über die Chans.

Dem Otaku-Konsumismus ging es darum, auszusteigen und den Status als hoffnungsloser Versager bereitwillig anzunehmen. Aber es dauerte nicht lange, bis die Obsession der Chans für rechtsextreme Ideen – zunächst ein Fluchtweg aus dem Otaku-Nihilismus – zu einer weiteren Fantasiewelt wurde, in die sich eintauchen ließ. Chans überzeugten sich selbst davon, zum Außenseiterdasein verurteilt zu sein.

Isoliert und erniedrigt

Viele männlichen Forumsnutzer hegten der modernen Gesellschaft gegenüber bitteren Groll. Sie fantasierten die Rückkehr in eine mythische traditionelle Vergangenheit herbei, in der sie nicht am Rand der Gesellschaft im Keller ihrer Mutter Videospiele konsumieren, sondern als Mittelschichtsverdiener im Zentrum stehen würden. Sie entdeckten faschistische Philosophen aus den 1930ern, deren Argumente nahelegen, die moderne Gesellschaft habe sie in ihre entwürdigende Lage gebracht und ihrer Männlichkeit beraubt.

Isoliert und erniedrigt machten sie sich daran, ein Gefühl von Solidarität, Zugehörigkeit und Stolz zu stiften, basierend auf dem, was sie einte – ihre weiße Hautfarbe. Während ihr Abstieg anhielt, stellten sie sich die Gesellschaft allein als sozialdarwinistischen Wettbewerb um Ressourcen vor. Und auf der Suche nach einer Erklärung dafür, dass sie in diesem Wettbewerb ganz unten standen, machten sie Fremde, Juden, Frauen, Immigranten oder Minderheiten zu Sündenböcken, die ihnen einen Platz an der Spitze genommen hätten.

Sie stellten sich die Gesellschaft vor, wie sie sich selbst sahen: vom Konsumzwang geprägt, von Ausländern bedrängt. Sie entwickelten eine Besessenheit für politische Fragen, die sich um Grenzen drehten. Daher begrüßten sie es, dass ein rücksichtsloser Sozialdarwinist mit Außenseiterstatus wie Trump, der alles war, was sie selbst nicht waren – reicher Geschäftsmann –, im Namen weißer Männer grausame Machtpolitik gegen Minderheiten umsetzte.

2016 begannen sich diese neuen Koalitionen, 4chan-Fahnen schwenkend, auf den Straßen in den USA zu zeigen, voller Stolz auf Trumps Aufstieg. Aber dann kam es im August 2017 zu einem abrupten Stopp: Eine „Unite the Right“-Demonstration in Charlottesville endete mit dem tödlichen Amoklauf eines jungen rechtsextremen Rassisten, der online radikalisiert worden war. Nach dem Tod der 32-jährigen Antifaschistin Heather Heyer brach das rasante Wachstum der Alt-Right kurz in sich zusammen. Aber es setzte sich im Untergrund fort. Und trat mit dem Auftreten des rechtsextremen Terroristen in eine neue Phase ein.

Wie lässt sich das stoppen?

Jahrzehntelang feierten die nihilistischen Chans es, wenn einer von ihnen sich selbst oder andere tötete. Oft ermutigten sie Live-Streamings der Ereignisse, indem sie sich in Chatrooms versammelten, um zuzusehen. Sie machten Mörder zu Idolen dafür, dass sie jene gewalttätigen männlichen Machtfantasien umsetzten, die sie auf dem Bildschirm konsumierten. 2014 machten sie aus Elliot Rodger, dem Massenattentäter von Isla Vista in Kalifornien, einen Märtyrer. Rodger hatte per Botschaft behauptet, er habe die Tat begangen, weil er unfreiwillig Jungfrau gewesen sei: ein Incel.

Nicht lange danach begannen die Chans ihre eigenen Incel-Attentäter hervorzubringen. 2015 veröffentlichte ein Amokläufer in Oregon sein Vorhaben zuvor auf 4chan und zitierte Rodger als Inspiration. 2018 widmete ein sich selbst als „Incel“-Täter bezeichnender Massenmörder in Toronto seine Tat einem „Sergeant 4chan“.

Als der Schütze von Halle sein mit faschistischen Memes und dem Bild eines Anime-Mädchens bestücktes Manifest veröffentlichte, wusste er, dass er diesen Beitrag in eine lange Geschichte von Chan-Memes, Witzen, neo-faschistischer Ideologie, Selbstmorden und Massenschießereien einfügte.

Wie lässt sich das stoppen? Die schlimmsten der Chans zu verbieten, wenn sie Gesetze übertreten (etwa, indem sie das Posten illegaler Inhalte zulassen), verhindert die Anwerbung neuer User. Vernünftige Waffenkontrollen verringern die Gelegenheiten zu einem Amoklauf. Aber diese Schritte behandeln nur die Symptome, nicht die Krankheit.

Extreme soziale Ungleichheit ermöglichte es dem Faschismus, in westlichen Ländern neu zu erstarken. Die Chans sind schlicht Ausdruck dieser gesellschaftlichen Entwicklung. Es gilt, die systematischen Ursachen des Faschismus anzugehen, anstatt zu hoffen, ihn aus dem Internet verbannen zu können.

Denn tatsächlich hat sich diese neue faschistische Koalition im Netz als enorm fragil und sprunghaft erwiesen – ebenso wie die Männer, aus denen sie besteht. Während meiner Recherchen sprach ich mit vielen, die sich von unfreiwilliger Enthaltsamkeit, Faschismus und den Chans abwandten, wenn sich Lebensumstände oder Ausbildungsstand verbesserten, darunter sogar der Gründer von 8chan selbst. Es wird wohl immer eine Minderheit verwirrter Faschisten in der Gesellschaft geben. Aber dass sich so viele von ihnen in den Chan-Foren tummeln, Hassideologien verbreiten und weiteren Todesschützen den Weg bereiten, das ist Ausdruck einer spezifischen gesellschaftlichen Entwicklung.

Dale Beran ist Autor und Zeichner. Er lebt in den USA und beschäftigt sich seit Jahren mit Alt-Right, 4chan, 8chan und anderen für Internet und Politik bedeutsamen Gegenkulturen Vor Kurzem ist sein Buch It Came from Something Awful. How a Toxic Troll Army Accidentally Memed Donald Trump into Office erschienen

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Übersetzung: Carola Torti
Geschrieben von

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