Es überrascht, in der in Bagdad erscheinenden Zeitung Al-Sabah zu lesen, es sei an der Zeit, ein „uraltes Problem“ des Irak zu lösen. Man solle einen Kurden-Staat nicht länger als Teufelszeug verdammen. Selten zuvor dürfte in einem arabischen Land eine solch ketzerische Ansicht verbreitet worden sein. Und ausgerechnet in Al-Sabah: Das Blatt gilt als Sprachrohr des irakischen Premiers Nuri al-Maliki. Der Autor spricht darin von einem Plan B, der auf einen Plan A folgen müsse. Letzteren habe man in Teilen erfüllt, etwa durch den Dialog zwischen der Zentralregierung und der kurdischen Regionalexekutive im Norden. Dennoch sei Plan A, so Shabbout, ein Rohrkrepierer.
In der Tat sind die Differenzen über Macht, Territorien und Öl zwischen Bagdad und Arbil, der Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan, so groß, dass dieser Dialog als gescheitert gilt. Ende 2012 kam es fast zum militärischen Konflikt. Zeitweise standen sich die irakische Armee und kurdische Peschmerga-Milizen an der Grenze zwischen Kurdistan und dem Restirak in einer derart gespannten Atmosphäre gegenüber, dass man mit dem Schlimmsten gerechnet hat. Der Premier Al-Maliki warnte damals: Ein möglicher Krieg werde nicht wie unter Saddam Hussein ein Konflikt zwischen kurdischen Rebellen und einem diktatorischen Regime, sondern ein „ethnischer Krieg zwischen Arabern und Kurden“ sein.
Ob nun Plan A oder Plan B – es gibt eine gefährliche Patt-Situation zwischen beiden Lagern. Der Arabische Frühling hat dafür gesorgt, dass die „kurdische Frage“ ein neues kritisches Stadium erreicht hat, nicht nur im Irak.
Sofort auf eigenen Füßen
Es war im 20. Jahrhundert so üblich, das Schicksal der Kurden allein den Interessen und Intrigen der internationalen Politik und den großen Umbrüchen im Nahen Osten zu überlassen. Es begann mit dem I. Weltkrieg und dem Niedergang des Osmanischen Reiches. 1916 versprachen Großbritannien und Frankreich den Kurden im Sykes-Picot-Abkommen einen eigenen Staat, dann aber brachen sie ihr Wort, sodass ein ganzes Volk nach 1918 zu unterdrückten Minderheiten in vier Staaten wurde – im Iran und Irak, in der Türkei und in Syrien.
Die Kurden haben wiederholt gegen diese Unterwerfung rebelliert, besonders im Irak, aber sie waren nie stark genug, sich durchzusetzen. Auch die geopolitische Lage hat ihnen dabei nur wenig geholfen. Dennoch haben sie sich nicht beirren lassen und weiter von ihrer Souveränität geträumt. Einen ersten Durchbruch konnten sie dabei schließlich dem Größenwahn des irakischen Diktators Saddam Hussein verdanken. Als der nach seiner Invasion in Kuwait 1991 einer internationalen Militärkoalition („Operation Wüstensturm“) unterlag, ist ein international geschützter „sicherer Hafen“ im Nordirak enstanden, der eine Region von 40.000 Quadratkilometern erfasst.
Den zweiten Durchbruch gab es mit der Neuordnung des irakischen Staates, nachdem die USA 2003 nochmals militärisch interveniert und Saddam Hussein gestürzt hatten. Die nunmehr gestärkte Autonomie im Nordirak führte zu einer weitgehend autarken Gesetzgebung, eigenem Militär und dem Zugriff auf die tragende Säule der irakischen Ökonomie: das Öl.
Die kurdische Führung ließ keinen Zweifel daran, dass sie gegenüber dem „neuen Irak“ nur loyal sein werde, wenn der sie als gleichberechtigten Partner behandeln würde. Es dauerte nicht lange, bis die von ethnischem und religiösem Zwist zermürbte neue irakische Demokratie nur noch ein Schattendasein fristete, was die Sehnsucht der Kurden nach Unabhängigkeit beflügelte. Offen oder heimlich begannen sie, territorial, konstitutionell, ökonomisch und militärisch vollendete Tatsachen zu schaffen. Für den Fall, irgendwann ihren Staat auszurufen, wollten sie sofort auf eigenen Füßen stehen.
PKK in Schach halten
Folgt für die irakischen Kurden nun der dritte Durchbruch, um einer der großen Gewinner des Arabischen Frühlings zu sein? Offenbar fehlt allein der letzte Auslöser. Es existieren bereits kurdisch verwaltete Zonen in Nordsyrien, die sich für autonom erklärt haben. Sollte der Bürgerkrieg zur Teilung des Landes führen, wofür einiges spricht, hätte sich die geopolitische Lage radikal zugunsten der Kurden verändert. Nur: Was geschieht, wenn auch kurdische Regionen der Türkei wie Südostanatolien in den Sog unaufhaltsamer Selbstbestimmung geraten? In diesem Land hat der kurdische Nationalismus am meisten zu leiden, nirgendwo sonst wird er derart unterdrückt. Stets haben Regierungen in Ankara kurdische Souveränitätsgewinne im Irak oder in Syrien als Vorläufer ähnlicher Tendenzen im eigenen Land betrachtet. Lange wurde in der Türkei Wert darauf gelegt, dass der Irak ein ungeteiltes Land blieb.
Inzwischen jedoch hat sich Premier Tayyip Erdoğan eines Besseren besonnen und verzichtet darauf, Irakisch-Kurdistan zu boykottieren. Die Rede ist von „voller wirtschaftlicher Integration“, was die Beziehungen zu Bagdad weiter trübt. Ohnehin stehen die beiden Länder im größten arabischen Machtkampf seit Langem – dem syrischen Bürgerkrieg – auf verschiedenen Seiten: hier der schiitische Iran, al-Malikis Irak, Bashar al-Assad und die Hisbollah im Libanon – dort die syrischen Rebellen, die sunnitischen Staaten und die Türkei.
Das Werben Erdoğans um die irakischen Kurden geht so weit, dass der Eindruck entsteht, Ankara werde bald mit Bagdad brechen und getrennt mit den Interessengruppen eines zerfallenen irakischen Staates verhandeln: den Schiiten, den Sunniten und den Kurden. Im Gegenzug könnte ein unabhängiges Kurdistan ein verlässlicher Öllieferant und Puffer gegen Irak und Iran sein. Möglicherweise wäre Irakisch-Kurdistan sogar in der Lage, die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) zu neutralisieren, die in Syrisch-Kurdistan eine starke Präsenz unterhält, um für ihren Guerilla-Kampf in der Türkei gerüstet zu sein. Hartnäckig hält sich das Gerücht, Erdoğan habe dem irakischen Kurden-Präsidenten Masud Barzani versprochen: Sollte er seinen Staat ausrufen, werde er ihn im Fall eines irakischen Angriffs beschützen. Obwohl das vermutlich nie nötig sein wird. Die al-Maliki-Regierung dürfte eher früher als später auf Plan B zurückgreifen und die irakischen Kurden aus freien Stücken in die Unabhängigkeit entlassen.
David Hirst ist Guardian -Kolumnist Übersetzung: Carola Torti
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