Clemens J. Setz' neues Stück „Der Triumph der Waldrebe in Europa“: Klick mich, Mama

Theater Gibt es ein digitales Leben nach dem Tod? Die Eltern in Clemens J. Setz' „Der Triumph der Waldrebe in Europa“ glauben das. Warum versandet dieser Abend am Schauspiel Stuttgart in Langeweile?
Ausgabe 42/2022

Laut einer Oxforder Studie sollen bis 2070 auf Facebook mehr tote als lebende Nutzer:innen registriert sein. Digitalen Nachlass nennt man das. Wenn man das weiterdenkt: Könnte man dieses Nebenprodukt der Digitalen Revolution nicht nutzen, um Menschen einfach weiterleben zu lassen? So tun als ob?

Die Eltern in Clemens J. Setz’ neuem Stück Der Triumph der Waldrebe in Europa, die ihren achtjährigen Sohn bei einem Autounfall verloren haben, machen genau das. Renate und Konrad Herzer akzeptieren seinen Tod nicht: „Mein Sohn gehört nicht der Erde, er gehört uns.“ Mithilfe digitaler Medien erschaffen sie eine Welt, in der David weiterlebt – so zumindest steht’s in der Vorankündigung des Schauspiel Stuttgart, wo das Stück jetzt uraufgeführt wurde.

Der Beginn des Abends, den Nick Hartnagel inszeniert hat, ist durchaus vielversprechend. Yassu Yabara hat ein mehrdeutiges, praktikables Bühnenbild ins Kammertheater gestellt. Die Wohnung der Eltern ergibt eine Kreuzform. Oben dient die Holzverkleidung diversen Projektionen. Unten hängen transparente Gardinen vor der Verglasung. All das strahlt den Charme eines Begräbnisinstituts aus. Und das passt ja.

Der Plot: 32 Szenen, die Einblicke in ein Eheleben mit digitalem Sohn gewähren wollen. Mal rückt Renate und Konrad das Produktionstrio irgendeines TV-Senders auf die Pelle und stellt tumbe Fragen, mal gibt’s Krach, weil Konrad sich in den Augen seiner Frau nicht genug um den „digitalen“ David kümmert, mal widmen sich die beiden dem umfangreichen Kommentar-Blabla, der Renates (Schein-)Familienblog begleitet. Oder sie geraten in merkwürdig abseitige Gespräche (aus denen sich auch der disparate Stücktitel ableitet): Etwa über den Ekel-Horrorfilm Human Centipede.

Dazwischen geschnitten werden schrille Szenen aus der bunten weiten Welt des Internets und seiner Influencer:innen und Hater:innen, die das digitale Elternprojekt kommentieren: Youtuber Tim Feels (Jannik Mühlenweg) etwa, der sich, werbestrategisch befeuert, für sein Hating der Familie entschuldigt, oder ein junger Mann namens Xaver (Elias Krischke), der seine Videobotschaften in Gestalt holpernder Gesangseinlagen verschickt und etwas von Menschenrechten lallt. Die technische Umsetzung ist schick, die sich ereifernden Gesichter werden stets riesig vergrößert auf die Holzvertäfelung projiziert.

Aber woran liegt’s, dass der Abend nach und nach in Langeweile versandet? Am Ensemble nicht. Therese Dörr spielt klasse: Die strenge, lebenslügengestählte Renate, die an ihrem Mann leicht sadistische Züge auslebt und immer dann cholerisch wird, wenn die Illusionsfassade bröckelt. Auch Gábor Biedermann macht seine Sache als sich dem Wollen seiner Frau bis zur Verzweiflung unterwerfender Konrad gut.

Das Problem ist wohl, dass viel Theaterpulver verschossen wird, aber zum eigentlichen Thema – Tod und Trauer in digitalen Zeiten – dringen weder Autor noch Regisseur vor. Es gelingt ihnen nicht, emotional zu packen. Das liegt auch daran, dass David in keiner Weise spürbar präsent wird und lediglich als unbelebtes, kaltes Kameraauge samt Tablet, das in einen Rollstuhl montiert ist, erscheint. Dass die Eltern ernsthaft darauf bestehen, diese Staffage am Online-Unterricht einer Privatschule teilnehmen zu lassen, ist völlig unglaubwürdig. Dazu kommt: Die Welt des Internets, in der David weiterleben soll, wird platt comedyhaft veralbert, durch völlige Übertreibung und bekloppte Topfschnittperücken von blond bis pink. Wobei sich die Kostüme von Tine Becker – ein Stilmix der letzten Jahrzehnte – eigentlich wirklich sehen lassen können.

Was der Text nicht schafft, versucht das Produktionsteam mit einem extra-emotionalen Kick: durch’s Geisterkind im Schlafdress, das am Ende über Tisch und Stühle tanzen darf. Brillant, das Kind!

Der Triumph der Waldrebe in Europa Clemens J. Setz Regie: Nick Hartnagel Schauspiel Stuttgart

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